Kapitel 43

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Wiegenlied
Kapitel 43

Eine Weile sprach keiner. Vom offenen Fenster konnte man ein Auto vorbeifahren hören. Ich blickte weiter auf das Bild und dachte darüber nach, ob ich mich umdrehen und ihm ins Gesicht blicken sollte. Ich tat es aber nicht. Die zehn Sekunden, in denen er noch der Burak war, der mich mochte, weil ich eben ich war, wollte ich noch auskosten.

»Wie kommst du auf sowas?«, fragte er schließlich. Ich riss mich zusammen, drehte mich widerwillig zu ihm um und blickte ihm ins Gesicht. Die Antwort lag auf meiner Zunge, aber ich wollte nicht sagen, dass es von Fatih gekommen war. »Spielt das ehrlich eine Rolle?«
Keine Antwort. Seine Augen starrten nur erschrocken in meine. Ich konnte einfach nichts daraus erkennen, nur den Schock.

»Ich hab Fotos bekommen, auf denen du mit einigen Mädchen warst-«, ich brach ab. Er sollte es doch verstehen. Den Satz zu beenden kam mir plötzlich so schwer vor. »Mädchen, die aussehen, wie ich.«
»Aslı, ich-«, er brach nun selbst ab und schaute aus dem Fenster. Sollte unsere Unterhaltung wirklich so weitergehen? Ich hatte das Gefühl zu ersticken und ich wollte mir das alles nicht antun. Am liebsten wäre ich in meinem Bett und würde in einen endlosen Schlaf verfallen.

»Ist doch auch egal«, sprach ich deshalb mit zittriger Stimme, obwohl ich so sehr versuchte, fest zu sprechen. »Es sollte mich nicht interessieren.«
»Aslı dur (Aslı, bleib stehen)«, bat er und griff nach meinem Arm, als ich raus wollte. »Es ist nicht so, wie du denkst.«

Ich hasste diesen Satz. In fast jedem Film versuchte ein Arschloch sich so den Arsch zu retten. Noch mehr hasste ich es aber, wenn dieser Arschloch ja doch recht hatte, das Mädchen sich geirrt hatte, sie ihn aber nicht ausreden ließ. Und ich wollte ihm so sehr glauben. »Wie dann?«
»Du wirst es falsch verstehen.«
»Jetzt verstehe ich es doch auch falsch. Du hast also nichts zu verlieren.«
»Setzt du dich ins Wohnzimmer? Ich komme sofort.«

Nach einem kurzen Nicken lief ich ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch. Hier hatte Burak gelegen, als er krank war und ich mich um ihn gesorgt hatte. Ich streifte mit der Hand über das Leder und mein Blick streifte dabei auf die Gitarre. Er hatte mir- oder ich vielmehr ihm versprochen, dass er mir etwas vorspielen und ich ihm zuhören würde. Damals war es besser. Irgendwie.

Burak ließ sich nah neben mich nieder und hatte eine Art Fotoalbum in der Hand. Er lächelte gequält, woran man merkte, dass das ziemlich schwer für ihn war. Er blickte überall hin, nur nicht zu mir. »Also, zuerst will ich, dass du weißt, dass das nicht meine festen Freundinnen waren oder sonst in der Richtung. Nur irgendwelche Mädchen, die ich kennengelernt habe.«
Und die sich gegenseitig unfassbar ähnlich aussahen.

»Aslı, ich war nie mit einem von denen zusammen. Nie.«
Er atmete tief ein und dann wieder aus, fuhr sich durch das Haar und setzte wieder an. »Ich hab dir versprochen, dass ich dir Asya vorstelle. Ich glaube, jetzt ist die Zeit dazu gekommen.«
Burak öffnete das Album langsam. Es war voller Fotos von einem Mädchen und ihm- von Asya und ihm. Ich spürte einen Stich unmittelbar unter meiner Brust. Es war schwer, es zu unterdrücken. »Sie- sie ist mir ähnlich?«
War sie nicht- nicht wirklich. Sie war glücklich und ich war kaputt.

Meine Stimme war nicht einmal mehr ein richtiges Flüstern. Ich dachte, er hätte es nicht gehört, doch er hatte. Deshalb nickte er und begann zu erzählen. »Sie war meine beste Freundin, schon von klein auf. Ich kann sie nicht beschreiben, das könnte ich nie. Sie war so- besonders. Wir sind auf Bäume geklettert, haben zusammen den größten Quatsch gemacht und haben immer zusammen gehalten, wie diese Kinder in den Filmen. Die größte Strafe, die man uns geben konnte war, dass man uns voneinander trennte. Dann bin ich immer über den Baum und dann durch das Fenster in ihr Zimmer gestiegen, das war ziemlich einfach, weil sie ihr Zimmer im ersten Stock hatte, aber als Kind war das trotzdem ein totales Abenteuer.«

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