22 | Vaters Sohn

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Die andere Seite, für euch, weil ihr mal gesagt habt, ihr mögt seine Kapitel so gerne :)

Maxim drückte schwer atmend die Haustür ins Schloss. Er war übermüdet, sein Rücken schmerzte noch immer. Nur für kurze Zeit gelang es ihm, die haarsträubende Geschichte bei Seite zu schieben, die Leticia ihm aufgetischt hatte. Doch kaum hatte er sein Haus betreten, waren die chaotischen Gedanken zurückgekehrt.

Achtlos warf er den Schlüsselbund auf die kleine Kommode im Flur und streifte sich die Schuhe von den Füßen. Gedankenverloren bahnte er sich seinen Weg in die elegante Designerküche, wo er eines der Gläser aus dem Oberschrank nahm, nach einer Wasserflasche griff und den Deckel aufschraubte.

Leticia musste vollkommen verzweifelt sein, ihm so ein Märchen aufzutischen. Selbst, wenn es stimmte, was sie sagte und sie vor einigen Jahren miteinander geschlafen hatten – wer garantierte ihm, dass sie nicht wahllos mit weiteren Männern ins Bett gestiegen war, um ihren Verlustschmerz zu betäuben? Allein die Vorstellung widerte ihn an. Doch noch viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wie es ihr gelungen war, ihn dermaßen zu blenden.

Er hatte sie für eine anständige Frau mit Stolz und Charakter gehalten, nicht für ein billiges Flittchen. Natürlich war ihm nicht entgangen, dass sie irgendein Geheimnis gehütet hatte – nicht umsonst hatte sich manchmal dieses seltsam-reumütige Funkeln in ihren Blick geschlichen, das er jetzt endlich deuten konnte.

Als er das Glas vollgeschüttet hatte, schraubte die Flasche wieder zu, trank einen Schluck und wanderte müde ins Wohnzimmer, wo er erschöpft auf die Wohnlandschaft fiel.

Den Schmerz in seiner Schulter ignorierend stellte er das Glas auf dem Glastisch ab, lehnte sich in die weichen Polster zurück und schloss die Augen. Für einen kurzen Moment gelang es ihm tatsächlich, alles auszublenden, was ihn beschäftigte, und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Als er Gefahr lief, sich gedanklich abermals mit Leticia zu beschäftigen, zog er das Smartphone hervor und vertiefte sich in die ausstehenden Antworten eingegangener E-Mails. Er hatte gerade die letzte Nachricht abgeschickt, als es klingelte.

Da kaum jemand wusste, wo er wohnte, konnten es nur wenige sein. Er linste aus dem Küchenfenster in die Einfahrt. Doch es war kein Wagen außer seinem eigenen zu sehen. Es konnte also praktisch nur sein Vater sein. Maxim seufzte. Manchmal hatte der allerdings kein gutes Timing.

Maxim war ein guter Schauspieler, doch vor ihm konnte er seine Gefühlslage nicht verbergen. Er erkannte bereits am Klang seiner Stimme am Telefon, wenn etwas nicht stimmte. Ein Wort zur Begrüßung reichte aus, um daran seine Stimmung abzuleiten.

Hin und wieder gelang es ihm, ihn in einem Telefonat von seinem Wohlergehen zu überzeugen, aber wenn er vor ihm stand, konnte er ihm nur noch schwer etwas vormachen. Kein anderer Mensch der Erde kannte ihn so gut wie er.

Unweit seines ersten Hauses, in dem er allein lebte, hatte er ihm ein eigenes gekauft und es zu seinem Erstwohnsitz gemacht. Das Gebäude ließ sich gut in unterschiedliche Wohnbereiche trennen, sodass er mit ihm, und trotzdem allein leben konnte. Während sein Vater den oberen Bereich bewohnte, hatte Maxim sich unten eingerichtet. Solang er nicht da war, lebte er dort mit seiner Lebensgefährtin, doch irgendwann würde Maxim wieder zu ihnen zurückkehren und ihn, wenn er ihn brauchen würde, unterstützen, wo er konnte.

Es klingelte noch einmal. Sein Wagen vor der Tür war ein klares Indiz, dass Maxim zuhause war. Zwar besaß sein Vater auch einen Schlüssel zu Maxims Wohnbereich, doch er nutzte ihn nur während seiner Abwesenheit, um die Post reinzubringen und nach den Blumen zu sehen. Er drang nur ungern in die Privatsphäre seines Sohnes ein, auch, wenn Maxim selbst das ganz anders sah. Für ihn war es selbstverständlich, dass sein Vater ein- und ausgehen durfte, wie es ihm beliebte.

Wie ein TattooWo Geschichten leben. Entdecke jetzt