61 | Tag der Entscheidung

169 11 0
                                    

Ihr Süßen, es wird ernst für Maxim.

Maxim straffte die vor Anspannung schmerzenden Schultern, als er gemeinsam mit seinem Anwalt auf den Gerichtssaal zuging. Er hatte das Gefühl, dass der Kragen des Hemdes, das er unter der Jacke trug, ihm die Luft zum Atmen nahm. Der teure Stoff kratzte unangenehm an seinem Hals, also schob er den Zeigefinger kurz darunter, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen, doch es blieb dabei. Er sog tief die Luft ein, versuchte, die Beklemmungen loszuwerden, doch es gelang ihm nicht.

Sein Blick fiel auf Leticia, die ihn entgegen seinem Wunsch hierher begleitete. Einerseits gab es ihm Kraft, zu wissen, dass sie trotz allem hinter ihm stand, andererseits schämte er sich dafür, dass sie überhaupt herkommen musste und hätte ihr die Unannehmlichkeiten gern erspart. Sie schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln und machte damit für den Bruchteil einer Sekunde all seine Sorgen vergessen, die seit Wochen in seinem Kopf umherspukten. Doch die innere Unruhe blieb.

„Es wird alles gut werden," versprach sie, als sie schließlich den Gerichtssaal erreichten und vor der Tür stehenblieben. Auch, wenn er an ihren Worten zweifelte, stärkte ihn die Gewissheit, dass sie ihn nicht im Stich ließ, auch, wenn sie damit vermutlich besser beraten wäre. Er rang sich ein Lächeln ab und versuchte, seine verkrampften Hände zu lösen, indem er nach ihren Fingern griff.

„Du musst das echt nicht machen", wiederholte er, doch Leticia schüttelte energisch den Kopf.

„Selbstverständlich mache ich das", entgegnete sie entschieden mit einem fest entschlossenen Funkeln in den Augen. Maxim bewunderte sie für ihre Courage. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er sie zu Beginn völlig falsch eingeschätzt. Doch jetzt, wo er die Bombe hatte platzen lassen und erlebte, wie sie damit umging, hatte sie ihn eines Besseren belehrt. Sie war tatsächlich die Art Frau, die alles für ihre Familie zu geben bereit war.

Maxim schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie ihre Entscheidung nicht schon in ein paar Stunden bereuen würde, wenn die Verhandlung vorbei war. Doch bevor er sich ein weiteres Mal in quälenden Gedanken darum verlieren konnte, dass sich Leticia und Noemi möglicherweise ohne ihn durchs Leben schlagen mussten, während er im Gefängnis seine Strafe absaß, biss er sich auf die Zunge und schob sie beiseite.

„Hey..."

Leticias leise Stimme war wie Balsam für seine Seele. Als er ihr den Kopf wieder zudrehte, strich sie ihm sanft über die steifen Schultern. Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Diese kleine Geste reichte, um ihm ebenfalls eines aufs Gesicht zu zaubern.

„Zusammen schaffen wir das", versicherte sie ihm. Er zog eine Grimasse, denn er fragte sich einmal mehr, womit er sie überhaupt verdient hatte, obwohl er so miserabel mit ihr umgegangen war.

„Du scheinst dir ja ziemlich sicher zu sein", kommentierte er schief grinsend, darum bemüht, seine Unsicherheit zu überspielen. Leticia nickte überzeugt.

„Wozu hast du sonst eine Familie?"

Ihre schönen Worte rührten ihn. Sie gab ihm das Gefühl, nicht allein zu sein und sich auf sie verlassen zu können, ganz egal, die die Verhandlung heute verlaufen würde. Gerade, als er sich zu ihr beugen und ihr einen Kuss geben wollte, trat ein groß gewachsener Beamter aus dem Gerichtssaal, um zur Verhandlung aufzurufen. Ein letztes Mal schaute er zu Leticia, die ermutigend seine Hand drückte, dann setzten sie sich in Bewegung und betraten gemeinsam mit seinem Anwalt den Gerichtssaal.

Es fühlte sich an, als würden die Wände sich auf ihn zubewegen, während Maxim sich seinem Sitzplatz näherte. Sein Hals schnürte sich zu, als er sich schließlich auf die Anklagebank setzte. Um seine unruhigen Hände zu beschäftigen, schob er seine Finger unter den Hemdärmel und zupfte daran herum. Währenddessen sah er sich suchend nach Viktor und seinem Verteidiger um. Leticia fiel unterdessen auf einen der Stühle hinter ihm, schlug ein Bein über das andere und sah noch einmal zu ihm. Die Sekunden, in denen sie auf Viktor warteten, zogen sich wie elendige Stunden. Als sein Freund endlich den Saal betrat und sich nur kurz darauf schwer ächzend neben ihn fallenließ, straffte Maxim die Schultern und atmete tief durch.

Während der Verhandlung verlor Maxim jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Er wusste nicht, wie lang er dort gesessen, seine Aussage gemacht und den Aussagen der anderen Vorgeladenen zugehört hatte. Übelkeit war in ihn aufgestiegen und wurde immer unerträglicher, je näher sie der Urteilsverkündung kamen. Als der Richter sich schließlich kurz zur Beratung zurückzog, hatte er das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Als der große, bärtige Mann zurückkehrte und wieder auf seinem Stuhl platznahm, bildete sich ein riesiger Stein in seinem Magen. Maxim hielt den Atem an, als sein kritischer Blick des Richters auf ihn fiel. Der Moment der Wahrheit war gekommen.

Wie ein TattooWo Geschichten leben. Entdecke jetzt