Leticia lief unruhig zwischen dem Wohnzimmer und der Küche auf und ab. Sie war wahnsinnig vor Sorge. Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Die Vorstellung, dass Noemi die Nacht irgendwo unter freiem Himmel verbrachte, sich vielleicht verirrt hatte, ängstlich war und sie ihr nicht helfen konnte, machte sie verrückt. Sie schreckte auf, als das iPhone in ihrer Hand klingelte.
Seit Maxim verschwunden war, um Noemi zu suchen, hatte sie es nicht aus der Hand gelegt. Als sie nun seinen Namen auf dem Display sah, raste ihr Herz noch ein wenig schneller. Auch jetzt hielt sie das Handy so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, während sie den Anruf entgegennahm. „Hast du sie gefunden?"
„Ja, sie war bei den Ponys. Wir kommen sofort nach Hause. Ich musste hier nur kurz noch was klären."
Leticia ließ erleichtert die Schultern sinken, während sie die Augen schloss und schwer ausatmete.
„Was ist passiert?", hakte sie nach, während sie sich übers Gesicht wischte.
„Alles cool. Erzähle ich dir gleich", versprach er. „Ich wollte dir nur schnell Bescheid sagen, damit du dir keine Sorgen mehr machst."
Sie nickte.
„Okay...", ächzte sie und strich sich eine verlorene Träne aus dem Augenwinkel.
„Bis gleich", sagte er, bevor er das Telefonat beendete. Die Gewissheit, Noemi in ein paar Minuten unversehrt in die Arme zu schließen, ließ Leticia leise aufschluchzen. Mit schwitzigen Fingern ließ sie das Handy sinken, fuhr sich mit den Fingerspitzen durchs Haar und huschte in die Küche. Den Blick starr aus dem Fenster gerichtet behielt sie die Einfahrt genau im Auge. Die folgenden Minuten fühlten sich an wie die Ewigkeit.
Als Maxim endlich in der Einfahrt auftauchte, stürzte Leticia direkt mit wild klopfendem Herzen zur Haustür. Die Klinke fest umklammert beobachtete sie, wie Noemi aus dem Auto kletterte. Sie biss sich auf die Zunge, als ihre Tochter mit gesenktem Kopf vor Maxim hertrottete, ohne sie anzuschauen. Dennoch ging Leticia in die Knie und zog Noemi in eine Umarmung. Zu ihrer Erleichterung ließ sie es über sich ergehen, dass sie sie fest an sich drückte und festhielt.
„Mach so was nie wieder, hörst du?", sagte sie leise und versuchte, die aufsteigenden Tränen herunterzuschlucken. Noemi nickte stumm, bevor sie sich voneinander lösten und Leticia sie behutsam in den Flur schob. Maxim folgte ihnen und schloss schwer seufzend die Haustür hinter sich. Leticia musterte ihn kurz. Er schien in der letzten Stunde zehn Jahre gealtert zu sein. Die Sorge um Noemi war auch ihm deutlich anzusehen.
„Komm, wir gehen ins Wohnzimmer", schlug er erschöpft vor und deutete in den Raum. Nur zögerlich setzte Noemi sich in Bewegung, fiel dann schließlich lustlos auf die große Couch. Maxim und Leticia ließen sich neben sie sinken und musterten sie. Leticia wollte so vieles sagen, doch ein riesiger Kloß schnürte ihr die Kehle zu. Auch Maxim schien noch nach den richtigen Worten zu suchen, ein solches Gespräch zu beginnen.
„Maxim ist mein richtiger Papa."
Noemis leise Stimme brach das peinliche Schweigen. Sie schaute Leticia und Maxim aus großen Augen anklagend an. Leticia schluckte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Finger zitterten vor Aufregung.
So oft hatte sie sich diese Situation in ihrem Kopf ausgemalt, versucht, sich vorzustellen, wie dieses Gespräch verlaufen könnte. Doch jetzt war alles anders. Zu wissen, dass Noemi nur durch ihren dummen Streit mit Maxim die Wahrheit erfahren hatte, brach ihr beinah das Herz. Das hatte sie einfach nicht verdient. Leticia fühlte sich schuldig. Sie war in der Lage gewesen, alles zu beeinflussen, doch sie hatte stattdessen alles laufen lassen.
„Ja. Er ist dein richtiger Papa", bestätigte Leticia und strich ihr einfühlsam über den Kopf.
„Weißt du, Zwerg, Mama und ich, wir haben uns damals aus den Augen verloren. Ich wusste nicht, dass du geboren wurdest, und sie wusste nicht, wie sie mich wiederfinden soll. Also konnte sie mir nicht von dir erzählen und ich konnte mich nicht früher um dich kümmern", erzählte Maxim vorsichtig. Leticia war beeindruckt, dass er die richtigen Worte fand, ihr die Umstände möglichst schonend zu erklären. Er erzählte die Geschichte ohne einen anklagenden Unterton, ganz neutral, mit ruhiger, fester Stimme.
„Und wie hast du dann von mir erfahren?", fragte Noemi unsicher.
„Wir haben uns zufällig wieder getroffen. Deine Mama war aber ziemlich unsicher, weil sie dachte, ich wäre vielleicht sauer, weil ich so lang nichts von dir gewusst habe. Also hatte sie große Angst davor, mir von dir zu erzählen.", sprach er weiter.
„Du bist ihr sehr böse deswegen. Du hast sie vorhin ganz schön angeschrien", kommentierte Noemi betreten und senkte ihren Blick. Leticias Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
„Das habe ich so nicht gemeint", beteuerte er. „Manchmal, wenn ich wütend bin, sage ich fiese Dinge, ohne darüber nachzudenken, die ich aber so nicht meine. Ich sage das dann, weil ich die Beherrschung verliere und bewusst jemandem weh tun möchte."
„Das ist aber nicht nett!", tadelte ihn Noemi ernst. Leticia unterdrückte ein gerührtes Seufzen. Manchmal war sie einfach zuckersüß.
„Ich weiß. Deshalb tut es mir besonders leid, dass du unseren dummen Streit mit angehört hast. Ich habe deine Mama sehr lieb und wollte ihr nicht weh tun."
Seine Worte lösten ein verräterisches Kribbeln in ihrer Magengegend aus. Er machte das wirklich toll. Als er ihr nun einen kurzen Seitenblick zuwarf, schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln.
„Ihr hättet es mir aber früher erzählen können!", sagte Noemi vorwurfsvoll, „Ich hätte Euch trotzdem lieb gehabt!"
Sie schaute enttäuscht von Leticia zu Maxim.
„Das war meine Schuld", sagte Maxim leise. Leticia musterte ihn überrascht, doch er brachte sie mit einem eindeutigen Blick zum Schweigen.
„Weißt du, Zwerg, du hattest es wirklich schwer in der letzten Zeit. Deine Mama hat sich sonst nie mit jemandem getroffen. Aber auf einmal war ich da; einfach so, nachts, in eurem Wohnzimmer", erzählte Maxim mit dem Unterton eines Geschichtenerzählers. „Aber da war ja nicht nur ich, der dein Leben plötzlich durcheinandergebracht hat. Dein Opa ist mit deiner Oma nach Spanien umgezogen. Das sind sehr große Veränderungen. Deine Mama und ich haben dann entschieden, dass es das Beste ist, wenn ihr hierherzieht, damit ich bei euch und für dich da sein kann. Aber hier ist auch alles ganz neu für dich. Außerdem hattest du so viel Angst vor deinem ersten Schultag. Ich dachte, es wäre gut, wenn du all diese Veränderungen erst mal verdauen kannst, bevor wir dir sagen, dass ich dein Papa bin."
Noemi schwieg einen Moment. Maxim seufzte lautlos.
„Es tut uns wirklich leid, Noemi", warf Leticia ein. „Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es wieder gutmachen."
Noemi sagte noch immer nichts, rückte jedoch dichter an Maxim heran. Dann schlang sie wortlos ihre Arme um ihn. Leticia schluckte, als sie die Tränen der Rührung in seinen Augen schimmern sah. Er legte seine Arme um ihren kleinen Körper und drückte sie fest an sich.
„Verzeih mir bitte, mein Schatz", sagte er leise und küsste ihren Haarschopf. Dabei lief eine stille Träne seine Wange hinab. Leticia rückte an die beiden heran und klinkte sich in die Gruppenumarmung ein. Maxim schaute über Noemis Kopf in ihre Augen. Pure Erleichterung lag in seinem Blick. Leticia legte ihre Hand an seine Wange und wischte ihm mit dem Daumen die Träne von der Wange, damit Noemi sie nicht sah. Er schenkte Leticia ein sanftes Lächeln.
„Ich hab dich lieb, Maxim", sagte das Mädchen plötzlich und drückte ihn noch ein wenig fester. „Ich dich auch", versicherte er und schloss die Augen. Leticia konnte sehen, wie er erleichtert aufatmete. Auch sie fühlte sich befreit. Nun wandte Noemi sich ihr zu. „Dich hab ich natürlich auch lieb, Mama", sagte sie überzeugt und löste sich von Maxim, um Leticia zu umarmen. „Jetzt habe ich endlich eine Mama und einen Papa."
Jaaa, ich weiß, irgendwie n bisschen zu entspannt, die Reaktion, oder? Heute hätt ich es wahrscheinlich ganz anders geschrieben. Aber damals wollte ich nur noch Happyness. Haha.
DU LIEST GERADE
Wie ein Tattoo
ChickLitHand aufs Herz - wer von uns hat noch nie jemanden belogen oder ihm die Wahrheit verschwiegen, um unberechenbare Folgen zu vermeiden und Unheil abzuwenden? Ist das nicht menschlich? Aber wie würdest Du reagieren, wenn Dich ganz plötzlich Deine Verga...