Lina
Um 21:30 war Katja mit dem Trockentraining und dann auch mit mir fertig. Es sollte eigentlich nur bis 21:00 gehen, aber das ist ihr einfach egal.
Jetzt sitze ich noch hier um 21:45 im Trockenraum und dehne meine verspannten Muskeln. Meine Kopfhörer im Ohr und meine Musik lenken mich ab. Dieser Welt entfliehen, nur für einen kurzen Moment.
Ich habe noch 45 Minuten, bevor ich nach Hause muss. Denn das ist die Uhrzeit, wo Katja meistens das Training beendet. Also war sie heute dann doch etwas gnädig. Geplant war nur eine Stunde, sie überzieht auf 1,5. Und doch war es kürzer als ihre sonstigen 2,5 Stunden.
Jeder Muskel tut mir heute weh. Eigentlich bin ich gut durchtrainiert, aber heute hat sie mich an meine Grenzen gebracht. Wie bereits vermutet, ich durfte extra Runden laufen.
Auch als sie das Training beendete, vergaß sie nicht mich an das Wiegen zu erinnern.
Gott, wie ich das hasse. Alle hängen an mir wie Hunde. Immer hinter mir her. Die einzige Pause, die ich mal habe ist, wenn ich bro Shootings bin.In meinen Kopfhörern erklingt die Musik von meinem langen Program, No Humans von Emilie Nicolas. Damit schweift mein Gedanke an das heutige Training zurück. An den Mann der mich beobachtete. Auch nach einer Stunde Qual, mit dem Flip und dem Lutz, stand er noch da. Ich hatte während des Trainings keine Chance an etwas anderes als das Training zu denken. Nein, ich durfte an nichts anderes denken. Ich darf nie an etwas anderes denken, als Eiskunstlauf.
Mein Blick fällt auf mein Handy: 21:30. Zeit nach Hause zu fahren. Ich will nur noch eine heiße Dusche und ins Bett.
Ich stelle mir noch eine Notiz zum Wiegen ein, bevor ich zu meinem Spind gehe und meine Tasche und Schlüssel rausnehme.Auf dem Weg aus der Halle sehe ich, dass es bereits dunkel ist. Ich atme die frische Luft ein, als ich auf dem Weg zum Auto bin. Die frische Nachtluft vom frühen Herbst ist angenehm. Ich liebe sie. Nachdem man den ganzen Tag keine frische Luft zu atmen bekommen hat ist ein tiefer Atemzug einfach befreiend.
Ich fahre mein Auto in unsere Einfahrt und sehe, dass noch Licht im Wohnzimmer brennt. Meine Eltern sind also noch wach. Ich habe eigentlich gehofft, dass sie schon schlafen würden. Mit einem tiefen Seufzer steige ich aus dem Auto aus und schließe es ab. An der Tür kann ich schon praktisch den Fernseher hören. Sowas wie Ruhe kennen meine Eltern anscheinendes doch nicht.
Ich schließe die Tür auf, ziehe meine Schuhe aus und gehe rein. „Lina?", höre ich meinen Vater rufen. „Ja?" Keine Antwort. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo sie zusammengekuschelt auf dem Sofa liegen. Zumindest die können das Leben genießen. „Hallo Maus. Wie war das Training?", fragt meine Mutter, als sie mich bemerkte. „Gut.", mehr hatte ich nicht zu sagen. Meine Mutter und Katja sind immer einer Meinung, die sind schon fast wie beste Freundinnen. Die Reden über alles, deswegen kann ich mich auch meinen Eltern gegenüber nicht öffnen, alles landet bei Katja. Alles. Mittlerweile hat sie schon einen Plan, wann ich meine Periode bekomme.
Anfangs war das unangenehm, doch nach sechs Jahren gewöhnt man sich daran.„Vergiss bitte nicht deine Tabletten zu nehmen. Trink Wasser nur nach dem wiegen nicht davor.", jeden Tag dasselbe. Tag ein, Tag aus. Mittlerweile hat sie zum Glück aufgehört mich daran zu erinnern, vor dem Wiegen noch auf die Toilette zu gehen. Das wird aber bald wiederkommen, das sehe ich schon vor mir. Ich nehme mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser, natürlich ohne Sprudel, und gehe nach oben in mein Zimmer. Zum Glück muss ich das Zimmer nicht mehr verlassen, da ich ein anliegendes Badezimmer habe.
Ich starre auf die Wasserflasche. Ich weiß schon nicht mehr, wann ich das letzte mal etwas mit Kohlensäure getrunken habe... Was man nicht alles dafür tut, um keinen aufgeblähten Bauch zu bekommen.
Ich weiß eigentlich schon garnicht mehr wann ich das letzte mal was anderes als Tee, Wasser und schwarzen Kaffee getrunken habe.Ich stelle die Flasche auf meinen Nachttisch ab und gehe zu meinem Schrank um mir meinen Schlafanzug rauszunehmen. Im Badezimmer angekommen gehe ich erstmal auf die Toilette und ziehe mich aus.
Sowas ist schon Routine.
Jetzt kommt das schlimmste. Das Wiegen. Ich darf nur 500g mehr als heute morgen wiegen, alles andere führt dazu, dass ich zunehme. Jeder Abend entscheidet, welches Training ich am nächsten Tag haben werde. Härteres oder etwas erbarmungsvolles Training. Tief durchatmen und einen Schritt auf die Waage machen.52,0 kg. Ich bin 1,67m groß. Das Gewicht ist in Ordnung. Etwas zu niedrig, meiner Meinung nach. Aber im Normalbereich zum Eislaufen. Morgen wird das Training also hart sein. Katjas Meinung nach sollte ich 49 kg und maximal 50 kg wiegen.
Ich wende mich von der Waage ab und gehe unter die Dusche um meine noch immer angespannten Muskeln zu entspannen.Bei dem heißen Wasser und der dicken Luft im Badezimmer wird mir etwas schwarz vor Augen. Das ist aber mittlerweile Normalität. Ich habe heute kaum was getrunken und zu essen gab es nur Salat und Fisch in der Hallenkantine.
Maria, die Köchin, hat mit noch einen Zwieback unter den Salat geschmuggelt, als Katja nicht zusah.
Maria ist anscheinend die einzige, die gesehen hat, wie schlecht es mit heute ging. Ich glaube, dass ich ohne ihren Zwieback fast umgefallen wäre.Ich stelle das Wasser ab und trete aus der Dusche. Ziehe mich an und mache mich fertig um in Bett zu gehen. Hungrig, wie sonst auch.
Ich schnappe mir mein Handy vom Waschbeckenrand und gehe zu meinem Bett. Neben meiner Wasserflasche stehen schon meine ganzen supplements bereit. Ein Tablettencocktail jeden Abend. Routine.
Eisen, Omega-3, Calcium, verschiedene Vitamine und Zink. Morgens, 1,5 Stunden vor dem Training, gibt es einen Proteinshake. Abend aber nicht.
Ich nehme alle Tabletten in eine Hand und die Wasserflasche in die andere. Ich schmeiße alles auf einmal in meinen Mund und schlucke alles mit dem Wasser herunter.Mittlerweile habe ich die Wasserflasche geleert und liege eingekuschelt in meinem Bett. Den Tag ausklingen lassen mit etwas Social Media. Mein Wecker klingelt wieder um 6:00. Zu lange wach sein gibt es bei mir nicht. Nach so einem Trainingstag frage ich mich manchmal, wie ich es schaffe nicht schon in der Dusche einzuschlafen.
Ich öffne Instagram und scrolle etwas durch meine Benachrichtigungen. Viele Fans, die mir schreiben, wie toll die mich finden. Oder die kleinen, die sich wünschen eines Tages so wie ich sein zu können.
Ich wünsche es ihnen nicht. Ein besseres Leben haben, denn am Ende, ist der Sport es nicht wert.Ich scrolle durch meine neuen Follower. Viele Fans und Fanpages von mir.
Ich erhalte eine Nachricht. Normalerweise antworte ich nicht auf Nachrichten meiner Follower aber diese Nachricht, lässt mich doch etwas unruhig werden.Von Lu.kas_mich.
Du läufst wunderschön. Konnte heute meine Augen nicht von dir nehmen. Nina erzählte schon öfter von dir und schwärmt von deinen können. Jetzt wo ich es gesehen habe, finde ich, dass sie untertrieben hat. Mach weiter so!
Grüße und gute Nacht
LukasIch tippe auf sein Profil. Lukas Michels, Kapitän der Eishockeymannschaft. Nina heißt doch Michels mit Nachnamen? Ist das der, von dem sie erzählt hat? Der Bruder, der für sein Leben gerne Eishockey spielt und damit der zielstrebige Athlet der Familie ist?
Zumindest kann ich ihn jetzt zuordnen und muss ihn in meinen Gedanken nicht ‚Mann' nennen. Ich beschloss ihm zu Antworten.Von Li.ko
Danke dir. Aber ihr übertreibt, Nina erst recht! Sie würde genau so gut sein wie ich, wenn sie wollte. Sie wäre sogar besser! Aber es freut mich zu hören einen Fanclub direkt unter meiner Nase zu haben.
Gute NachtDie Nachricht wurde direkt gelesen. Und er schreibt.
Von Lu.kas_mich.
Nenn uns deinen Nummer 1 Fanclub. Würde behaupten, dass ich dein Fan Nummer 1 bin. Nina kann sich hinten anstellen.
Und nein, Nina ist zwar gut, aber sie steckt nicht so viele Emotionen rein wie du. Das war es, was mich heute gecatcht hat.Von Li.ko
Danke.
Gute NachtDamit lege ich mein Handy weg. War meine Nachricht doch zu kurz oder zu trocken? Ich sollte mir darüber keine Gedanken mehr machen.
Ich schaue nochmals auf die Uhr 00:30. Ich muss unbedingt schlafen, sonst überlebe ich den Tag morgen nicht.Damit drehe ich mich auf die Seite und schließe meine Augen. Wenige Sekunden später schlafe ich von meiner Erschöpfung ein.
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Hell on ice
RomanceLina Koschenko ist 19 und Eiskunstläuferin seit dem sie denken kann. Nie gab es etwas anderes in ihrem Leben, sie kennt nichts anderes. Was einmal ihre Leidenschaft war, ist jetzt ihre persönliche Hölle. Trainer, Sponsoren und Eltern sehen nur ihren...