Kapitel 48

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Während dem Essen im Restaurant bekomme ich keinen Bissen runter. Schon seit einer halben Stunde stochere ich in meinem Teller herum und versuche einen klaren Kopf zu fassen. Ich sitze mit meinen Freunden an einen runden Tisch, der Rest unseres Jahrgangs ist an den Tischen um uns herum verteilt. Immer wieder schaue ich mich im Restaurant um, doch ich kann keinen Schüler der North-West-High erkennen. Wie kann es sein, dass sie nicht mit ins Restaurant gekommen sind? Und wieso macht es mich so wahnsinnig und unruhig Chase nicht hier zu sehen? Kann es sein, dass ich mir unser Gespräch vorhin nur eingebildet habe? Hat mich die Kunst so umgehauen, dass ich sogar Wahnvorstellungen davon bekommen habe? Nein, niemals. Ich spüre seiner Finger noch immer auf meiner Haut. Das kann ich mir unmöglich nur eingebildet haben. Es ist, als hätte er meinen Körper mit seinen Berührungen gebrandmarkt.

»Melody ist ganz schön abwesend.« Ich schrecke hoch und sehe in Zeds Gesicht. Er hat sich gerade seine Nudeln auf die Gabel geschaufelt und isst sie nun. »Ich?«, frage ich abgelenkt.

»Ja, er hat recht«, fährt Blair fort. »Du scheinst ganz wo anders zu sein.« Mein Blick schweift runter zu meinem Handy, welches auf meinem Schoß liegt. Im Minutentakt schaue ich auf die Uhr, inzwischen haben wir halb elf. In einer halben Stunde erwartet mich Chase vor der Oper und ich habe mich bis eben noch nicht entschieden, ob ich diesen bedeutsamen Schritt wagen soll. Oder kann.

Es hat sich so wahrhaftig und ernst angehört und ich weiß nicht, ob ich das kann. Meine Eltern sind ein Paradebeispiel dafür, wie ich nicht enden möchte. Ich habe mich von Jungs und von Bindungen ferngehalten, da ich nicht wie meine Eltern werden möchte. Was an Chases Verhalten hat meine Ansicht verändert? Die unerklärlichen Gefühle, die er in mir auslöst? Dabei hat er recht. Wir haben versucht uns zu hassen, doch wir sind gescheitert. Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir riskieren es und setzen alles auf eine Karte. Oder ich tauche in einer halben Stunde nicht am Treffpunkt auf, damit hat sich das Ganze für uns beide erledigt.

»Ich bin nur müde.« Ich trinke von meiner Cola und schaue mich erneut um. Das Restaurant ist in einem rustikalen Style eingerichtet. Von oben hängen goldene Kronleuchter, klassische Musik ertönt aus den Lautsprechern. Mein eines Bein wippt unter dem Tisch, da ich so nervös bin.

Rachels Hand landet auf meinem Oberschenkel, erschrocken sehe ich zu ihr hoch. »Was ist denn los? Sollen wir schnell ein Krisentreffen auf dem Klo machen? Ich kann Blair gegens Bein treten, dann weiß sie Bescheid.« Ich muss wegen ihrem Angebot lächeln, doch ich schüttle entschieden mit dem Kopf.

»Ich muss das selbst schaffen«, flüstere ich ihr zu. »Aber heute Nacht werde ich euch einweihen, versprochen.« Kurzerhand erhebe ich mich vom Tisch und nehme mein Handy zur Hand.

»Ich gehe auf die Toilette.« Als ich schon am Gehen bin, höre ich Nate noch zu den anderen sagen: »Sie ist echt komisch drauf in letzter Zeit.«

»Stehst du noch auf sie?«, fragt Zed. Schnell schalte ich mein Gehör aus und flüchte zu den Damentoiletten. Auch hier ist alles ziemlich rustikal eingerichtet, die Fliesen und die Türen sind schwarz. Vor dem Waschbecken halte ich inne und betrachte mein Spiegelbild.

Ich sehe völlig aufgelöst aus. Panisch versuche ich meine Haare mit Hilfe meiner Finger zukämen. Im Kopf gehe ich ununterbrochen eine Pro und Kontra Liste durch. Immer wieder drücke ich auf das Display meines Handys um abzuchecken wie viel Uhr wir inzwischen haben. Der Zeiger läuft, wir haben fast zehn vor elf. Mein Puls überhäuft sich, die Wände der Damentoilette scheinen näher zu kommen. Ich bekomme Platzangst, dabei habe ich bloß Angst vor meinen Gedanken, die miteinander streiten. Es ist als würde ein Engel und auch ein Teufel auf meinen Schultern sitzen. Ich kann mich nicht entscheiden welchen von beidem ich Beachtung schenken soll. Auf wen soll ich hören? Teufel, oder Engel? Welchem Gefühl, welchem Verlangen soll ich nachgehen? Es ist echt zum Heulen, wäre es mir möglich, würde ich genau jetzt auf der Toilette eines befremdlichen Restaurants einen Zusammenbruch erleben. Ein heftiger Druck liegt auf meiner Brust, ich presse meine Handfläche auf diese Stelle und versuche in regelmäßigen Abständen zu Atmen. Zum letzten Mal betrachte ich mein eigenes Spielbild und straffe dann die Schultern. Ich schaffe das. Ich schaffe es auf mein Bauchgefühl zu hören.

»Ich schaffe das«, versichere ich mir selbst, nachfolgend verlasse ich die Toilette. Mit langsamen Schritten laufe ich den kurzen Flur entlang und stehe schließlich vor der alles entscheidenden Abzweigung. Entweder ich gehe zurück zu meinen Freunden und lasse den Abend mit ihnen ausklingen. Oder ich biege nach rechts ab und gelange so nach draußen.

Unentschlossen bleibe ich auf der Stelle stehen und erkenne dann Ms Wesley und Mr Bold, die hinten an einem Tisch zu zweit sitzen. Sie sehen mich nicht, sondern sind vertieft in ihre Gespräche. Ich kann mich verdrücken, ohne dass sie es mitbekommen. Und auch wenn, hätte ich etwas gegen die beiden in der Hand.

Mir wird schwindelig. Gott, was soll ich tun? Dann endlich fasse ich mir ans Herz und scheine meine richtige Entscheidung getroffen zu haben. Mit einer Wucht aus Nervosität und Aufregung klemme ich den Ausgang des Restaurants an und stürme nach draußen. Somit fällt meine Entscheidung auf Chase Woodchuck.

Unbeholfen schaue ich mich in allen Richtungen um, um herauszufinden wohin ich muss. Vorhin habe ich nicht wirklich auf den Weg geachtet, sondern bin bloß den anderen gefolgt. Ich platze beinahe vor Nervosität, schnell zücke ich mein Handy hervor um auf die Uhr zu schauen. Ich habe nur noch drei Minuten Zeit, dann ist das Ultimatum vorbei.

Es ist bereits stockdunkel hier draußen, nur die Laternen erhellen mir den Weg. Inzwischen ist es auch etwas frisch geworden, meine Arme frieren, doch das ist mir schlichtweg egal. Hektisch nehme ich mein Umfeld ins Visier, dann erinnere ich mich, wo ich hin muss. Das Grand Opera House befindet sich auf meiner linken Seite, mit schnellen Schritten renne ich darauf zu.

Ich kann das weiße Gebäude schon erkennen, einige Leute stehen davor und fotografieren den Schauplatz. Außer Puste komme ich davor zum Stehen, schaue mich um, doch kann Chase noch nirgends entdecken. Angespannt schaue ich erneut auf mein Handy und genau in diesem Moment wandert der Zeiger. Wir haben genau elf Uhr und die Oper wird mit farbigen Mustern angestrahlt. Staunend lasse ich mein Handy sinken und starre zu dem hohen Gebäude, welches nun nicht mehr weiß und langweilig erscheint. Es ist ein Farbenspiel des Lichts, alle Farben werden auf das Gebäude reflektiert und klassische Musik wird auf dem Platz abgespielt. Chase hatte recht, es gefällt mir sehr.

Lächelnd bewundere ich die vielen Farben, die zur einer Einheit verschmelzen und scheine schon beinahe vergessen zu haben was ich hier draußen eigentlich tue.

»Du bist gekommen.«

Drei kleine Worte. Drei kleine Worte lassen mein Herz anschwellen und mich lebendig fühlen. Und ich liebe dieses Gefühl. Bevor es sich Chase anders überlegen kann, drehe ich mich um und sein Anblick raubt mir schließlich alle Worte.

Chase sieht unfassbar gut aus in diesem weißen Hemd. Ich konnte es zuvor nie leiden, wenn sich Männer so aufhübschen, doch bei ihm hat das alles eine komplett andere Bedeutung. Ich könnte Chase den ganzen Tag bewundern und anstarren ohne Angst vor Langeweile zu haben.

Uns entfernen ungefähr zwei Schritte voneinander. Schüchtern schaue ich zu seinem Gesicht hoch, er fängt meinen Blick auf. Seine Wangen sind gerötet, seine Hände hat er in den Taschen vergraben.

»Das vorhin im Saal war total kitschig und ich schäme mich total für die komischen Worte. Trotzdem wollte ich dir noch mal sagen, wie leid es mir mit deinem Rücken tut...« Zu mehr kommt er nicht, denn ich bin mir plötzlich ganz sicher bei dem was ich hier tue. Ich überbrücke unsere Distanz, lege meine Hände an seine Wangen und küsse ihn.

Ich bin dabei fliegen zu lernen, indem ich über meinen eigenen Schatten gesprungen bin. 

Broken Shine - Wenn aus Rache Liebe wird 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt