38. Kapitel - Endloser Kreislauf

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Ein Piepen erklang in meinen Ohren, das mich taub machte. Ich spürte den Rückstoß meiner Pistole in meiner rechten Hand, doch ich bewegte mich nicht. Mein Blick war auf Paige gerichtet, in deren Kopf sich ein Loch geformt hatte. Blut spritzte, dann sackte sie in sich zusammen.
Ihre Augen waren zusammengekniffen gewesen, doch als ihre verkrallten Hände von der Reling losließen, öffneten sich ihre Augen einen Spalt. Leblos sackte sie auf ihre Knie, dann landete sie auf ihrer rechten Seite. Ihre blonden Haare waren ein chaotisches Desaster und saugten schon bald die glänzende rote Flüssigkeit auf, die sich in einer Lache von ihrem Kopf ausbreitete.
Hätte ich einen solchen Anblick noch nie gesehen, würde ich erstaunt sein, wie viel ein toter Mensch bluten konnte. Ich war nicht erstaunt, trotzdem konnte ich mich nicht bewegen. Immer noch hielt ich die Waffe erhoben, meine Fingerknöchel bereits weiß.
Meine Hand zitterte, und so sehr ich es nicht wollte, siegten in diesem Moment alle Gedanken, die ich in den letzten Tagen unterdrückt hatte, nein, in den letzten Monaten.

Das ist das Ende, mein Ende...

Ich erinnerte mich, wie ich von Wicked gefangen genommen wurde. Man hatte mich von meiner Gruppe getrennt, als ich eine der Verlorengegangenen geworden war. Janson hatte mich gepackt, dann in einen Raum gesperrt. Man hatte mich zusammengeflickt, doch für welchen Nutzen?
Als ich zu mir gekommen war, hatte mich Paige besucht, so getan, als wäre sie meine Rettung. Ich hatte die Chance bekommen, ihr aus eigenem Ansporn heraus alles zu erzählen, was ich über den Rechten Arm wusste. Ich hatte mich geweigert, und so Paiges wahre Seite kennengelernt.
Michal hatte sich um mich gekümmert, begonnen, mich zu foltern. Er hatte sich einen Spaß daraus gemacht, und bis heute bekam ich sein Lachen nicht mehr aus meinem Kopf heraus. Es verfolgte mich, würde es für immer, wenn es auch schwächer werden würde.
Meine Folter hatte Wicked nichts gebracht und ich war zu ihrem Ballast geworden. Einen, den man seine Erinnerungen stahl und für die eigenen Experimente missbrauchte. Sie hatten mich ins Labyrinth gesperrt.

Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Im Labyrinth hatte ich eine neue Seite dieser verdammten Welt kennengelernt, sowie meine Freunde. Ich hatte eine kurze Auszeit von dieser Welt bekommen, wenn auch in einer anderen Hölle, solange, bis meine Erinnerungen zurückgekommen waren. Wir waren aus dem Labyrinth geflohen, hatten Freunde sterben sehen, nur um abermals in Wickeds Fänge zu landen.
Auf unserer Flucht zum Rechten Arm hatten wir Jorge und Brenda getroffen. Beides Mitglieder unserer Gruppe, ohne denen ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen konnte.
Verdammt, mir waren alle von meinen Freunden ans Herz gewachsen!
Ich hatte es ihnen in den letzten Monaten aber nicht gezeigt. Stattdessen war ich in einem Wahn gefangen gewesen. Einzig und allein Ava Paiges Tod als Schlüssel für den Käfig meines verpesteten Gedankenguts.
Aber warum fühlte ich keine Erleichterung?
Warum hatte sich nichts verändert?
Ich stand da, den vertrauten Griff meiner Pistole in der Hand. Die Dunkelheit der Nacht umgab mich, und ich konnte meinen Atem hören, obwohl außerhalb in der Stadt weitere Explosionen zu hören waren. Ich ignorierte sie, für mich gab es sie nicht.
Ava Paige, welche mich so lange gequält hatte, lag regungslos zu meinen Füßen. Ein Sieg, den ich mir ersehnt hatte, aber nun fand ich mich in einem inneren Monolog gefangen.
Ich konnte ein Böses vernichten, das spürte ich tief in meinem Herzen. Doch die Worte Brendas hallten in meinem Kopf wider:

"Ein weiteres wird kommen, Rosaly. Nach Wicked ist es nicht vorbei; immer wird es jemanden geben, der die Welt für sich beanspruchen will."

Die Worte waren ein Kreis, wie ein Naturgesetz, unausweichlich, unaufhaltsam.
Ich wusste das, hatte es allein während meines Gespräches mit der Ärztin Melanie endgültig realisiert. Nach Wicked würde anderes Übel aus ihrer Asche aufsteigen. Wie ein Phönix, fast, denn das nächste Übel hätte dasselbe Ziel wie Wicked, doch es würde sich um eine andere Organisation handeln. Vielleicht sogar grausamer als Wicked es je gewesen war.
Ich hatte der Welt nichts Gutes getan. Ich hatte aus Rache gehandelt, meine Seele von Hass durchtränkt. Doch jetzt, da der Staub sich gelegt hatte und die Dunkelheit den Sieg verhüllte, fragte ich mich, was es mir gebracht hatte.
Hatte es mir meine getöteten Freunde zurückgebracht?
Nein.
Hatte es die Zeit zurückgespult, sodass ich noch einmal die Möglichkeit bekommen könnte, mich um meine Freunde, Newt, zu kümmern? Selbst zu realisieren, dass ich etwas Gravierendes in den letzten zwei Tagen übersehen hatte?
Nein.
Nach dem Tod Paiges hatte sich nichts verändert. Die Welt war unverändert, immer noch von denselben Problemen geplagt wie zuvor. Die Radikalen und die Mächtigen würden weiterhin um die Kontrolle kämpfen, und die Unsichtbaren würden im Schatten leiden. Tod und Leben, ein ewiges Gleichgewicht.
Ich hatte das eine genommen und das andere gegeben, indem wir Unschuldige gerettet hatten. Jedoch, der Kreislauf der Welt würde sich immer weiterdrehen, und mein Sieg schien bedeutungslos inmitten dieses endlosen Tanzes von Dunkelheit und Licht.

Bis zum letzen Atemzug | Newt Ff / Teil 3 ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt