47. Kaptel - Sicherer Hafen

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Alles war friedlich, die Welt wirkte unwichtig, als würde das Leben zu einem Stillstand gekommen sein. Die Sonne stieg von Osten nach Süden und ihre warmen Strahlen malten goldene Reflexe auf die tiefblauen Wellen. Das Meer bewegte sich in einem Tanz, von der Schiffsbewegung leicht geschaukelt.
Das große Schiff hinterließ eine Spur im Meer, sendete Wellen nach links und rechts aus. Sie verkleinerten sich, bis sie sich mit den Wellen des offenen Meeres verbündeten.
Ich stand am hinteren Ende des Schiffes, meine linke Hand umklammerte das grobe Geländer, während der salzige Wind meine Haare wild durcheinanderwirbelte. Das Schiff, bestehend aus Metall, ächzte bei jeder Bewegung. Es war ein Wunder, dass diese große Badewanne, wie mein Vater das Schiff nannte, überhaupt schwimmen konnte.
Die Aussicht war schön, trotzdem wäre ich lieber mit dem Berk zum Sicheren Hafen geflogen. Jorge und Brenda transportierten mit ein paar anderen Mitgliedern des Rechten Arms Thomas und Newt zur Insel, die unser neues Zuhause werden würde. Sie hatten Gally mitgenommen, der sich mit ein paar anderen sofort darum kümmern würde, eine provisorische Krankenstation zu errichten.
Mein Vater hatte jedoch entschlossen, dass ich per Schiff reisen würde. Zum einen, weil ich noch nie auf einem Schiff gewesen war, und zum anderen, weil er wollte, dass ich an etwas anderes dachte.

Und trotzdem denke ich gerade an Newt...

Der Geruch von salziger Gischt vermischte sich mit dem Wind von Westen, während die Badewanne durch die Wellen schnitt. Es war angenehm warm, sogar erfrischend auf dem großen Schiff, und Möwen kreischten über uns, als ob sie die Wegweiser auf unserer Reise wären. Es war ein schöner Anblick, wie die weißen Vögel sich im Wind gleiten ließen.
Das merkte auch Emilia an: "Ich wäre gern ein Vogel", sprach sie verträumt.
Ich stand mit meinen Freunden am Heck des Schiffes und wir blickten auf den alten Hafen, der immer kleiner wurde. Links neben mir standen Emilia, dann Pfanne. Rechts neben mir stand Liv und neben ihr Minho, von dem ich immer noch nicht glauben konnte, dass er wieder bei uns war.
"Ich wäre lieber ein Delfin oder so, dann könnte ich in diesem schönen Wasser schwimmen", sprach Liv und stupste Minho mit ihrem rechten Ellenbogen an, "Dann wäre ich sogar im Wasser schneller als du."
"Du kannst aber schlecht schwimmen."
"Ich bin auch kein Delfin."
"Blöd für dich."
Die beiden hatten sich absolut nicht verändert und nach der zweiten Nacht unserer letzten Mission sahen die anderen besser aus. Liv und Minho hatten heute lange geschlafen, denn als ich aus der Krankenstation vertrieben worden war, waren sie noch nicht wach gewesen. So hatte ich mit meinem Vater das letzte Mal in unserem kleinen Haus Frühstück gegessen, dann war es aufs Schiff gegangen. Die Mitglieder des Rechten Arms und die vielen Immunen hatten bis in die Nacht daran gearbeitet, dass am Morgen alles vorbereitet wäre.
Das war vor einer halben Stunde gewesen. Das Schiff fuhr langsam über das offene Meer und wir würden noch mindestens zwei Stunden fahren, da wir eine Kurve nach Süden fahren müssten. Dennoch war es erstaunlich, dass das Schiff überhaupt fuhr. Viele Stunden war daran gearbeitet worden, auch hatten wir uns um genug Treibstoff kümmern müssen.

Ein weiterer Grund, warum der Sichere Hafen sicher ist, dachte ich, als ich zurück zum Festland blickte, in der heutigen Welt ist es schwer, das Meer in weiten Distanzen zu befahren.

"Was ist mit dir?"
Ich zuckte zusammen, als ich Livs linken Ellenbogen zwischen die Rippen bekam.
"Hm?", machte ich geistreich und blickte ihr in die Augen, die über meinen waren. Livs kurze Haare flatterten im Wind und sie lächelte mich an. Ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, denn auch sie war von den letzten Ereignissen mitgenommen. Trotzdem machte sie das Beste daraus.
"Welches Tier wärst du gern?"
"Nichts im Wasser", begann ich langsam, "ich kann nicht schwimmen."
Ich musste daran denken, dass man mir nie das Schwimmen beigebracht hatte. Ein Leben in der Brandwüste und beim Rechten Arm hatte dafür nicht viele Möglichkeiten geboten. Jetzt wusste ich das, doch ich erinnerte mich an einen Moment auf der Lichtung zurück, wo ich frisch herausgefunden hatte, dass ich nicht schwimmen konnte.
Es war der Tag auf der Lichtung gewesen, als ich Newt im Maisfeld erschreckt hatte. Er hatte mich darauf über die ganze Lichtung gejagt, bis ich in den Wald gelaufen war. Fast wäre ich in den kleinen See gefallen, doch ich hatte vorher abbremsen können. Newt jedoch nicht. Er war in mich geknallt und zusammen waren wir im See untergegangen.
Ich erinnerte mich gut an diesen Moment, weil mir unter der Wasseroberfläche eine Erinnerung in den Sinn gekommen war. Gleichzeitig hatte ich feststellen müssen, dass ich nicht schwimmen konnte. Newt hatte mich aus dem Wasser gefischt und ich hatte mich an ihm festgekrallt, weil ich Angst gehabt hatte.
Als ich mich beruhigt hatte, hatte ich Newt aufgezogen, weil er mich bereits zweimal umgerannt hatte, doch als ich zum Ufer gehen hatte wollen, hatte ich feststellen müssen, dass ich nicht stehen konnte. Ich war untergegangen und abermals von Newt gerettet worden, der mich beim zweiten Mal nur mehr ausgelacht hatte.
"Rosaly...?", fragte Emilia besorgt neben mir und machte die anderen auf mich aufmerksam. Ich blickte in Emilias große blaue Augen, dann bemerkte ich, dass meine feucht waren. Auf meiner rechten Wange floss sogar eine Träne ihren Weg.
"Oh", machte ich und wischte die Träne mit meiner linken Hand fort. Ich nahm sie dafür vom Geländer, warum meine Finger kühl waren. Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, nuschelte ich: "Tschuldigung..."
Ich starrte aufs blaue Meer und Liv sagte sofort: "Wenn du dich noch einmal für so 'was entschuldigst, werf' ich dich ins Meer."
Von den anderen bekam sie darauf nur Zustimmung. Pfanne und Emilia nickten, wobei Emilia sprach, dass Weinen gut war, und Minho sagte: "Vor uns zu weinen, muss dir nicht unangenehm sein. Wir haben uns alle schon weinen sehen. Du machst keinen Unterschied."
Kurz wurde es nach seinen Worten still. Sekunden, in denen das Meer lauter rauschte, die Gespräche der anderen Menschen an Bord deutlicher wurden und die Sonnenstrahlen sich wärmer anfühlten.
"Ich hab' nicht einmal an etwas Trauriges gedacht", sprach leise und blickte wieder zum Festland, "Es ist sogar eine lustige Erinnerung gewesen, aber ich habe es mit Newt erlebt..."
Die Erwähnung seines Namens reichte, dass meine Freunde verstanden. Sie verstanden den Schmerz in meiner Brust, fühlten ebenfalls, wie ihre Herzen am bloßen Gedanken an Newt langsam zu reißen begann.
"Woran hast du denken müssen?", fragte Pfanne.
Ich spürte, wie mich jeder ansah, aber ich sprach: "Ich weiß nicht, ob ich es erzählen soll..."
"Oh, ist es eine dreckige Erinnerung?", neckte Liv sofort, "Dreckig, im Sinne von intim."
Mein Kopf schnellte zu Liv, die viel zu breit grinste und ihre Augenbrauen tanzen ließ. Von Emilia bekam sie ein: "So 'was kannst du nicht fragen, Liv!", doch Minho unterstützte seine Freundin, wie immer, und setzte drauf: "Jetzt will ich es auch wissen."
Pfanne blieb als Einziger objektiv und sprach: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass Rosaly auf so etwas nie angespielt hätte, also unterdrückt diese komische Heiterkeit bitte."
Ich nickte Pfanne dankend zu, dann erklärte ich mich: "Ich bin mir unsicher, ob ich es erzählen soll, weil Newt und ich es euch nie erzählt haben. Ihr erinnert euch, was passiert ist, als ich auf die Lichtung gekommen bin?"
"Du hast Gally eine über den Schädel gezogen? Genial war das!"
Ich schüttelte auf Livs Worte meinen Kopf, warum Minho sagte: "Newt hat dich umgerannt."
Pfanne lachte leise, denn von den Anwesenden hatte er es als Einziger gesehen; Minho und Liv waren im Labyrinth und Emilia in der Küche gewesen.
"Jetzt musst du uns davon erzählen, Rosy, bitteee.", Liv sah mich aus großen Augen an und auch die anderen wollten die Geschichte hören.
Ich seufzte leise, sprach kurz zu Newt in meinen Gedanken, dass er mir nicht böse sein sollte, weil Liv es ihm gewiss für die nächste Zeit vorhalten würde.
"Sagen wir so, es ist Newt noch einmal passiert."
"Wie kann einem so etwas 'passieren'?", fragte Minho heiter, während Liv lachte und die Einzelheiten verlangte. Ich erzählte sie ihnen schnell und wir lachten alle kurz.
Ich hatte lange nicht mehr belanglos gelacht. Zwar fühlte ich mich immer noch leer und es würde noch eine lange Zeit brauchen, bis ich die letzten Ereignisse verarbeitet hätte, doch in diesem Augenblick konnte ich zumindest sagen, dass ich froh war, diesen Moment erlebt zu haben. Wir alle waren innerlich zerstört und den Scherbenhaufen könnte man nie wieder ganz machen. Jedoch könnte man beginnen, die ersten Stücke aneinanderzukleben. Jetzt gerade hatten sich zwei Stücke wieder gefunden. Es war ein Anfang.

Bis zum letzen Atemzug | Newt Ff / Teil 3 ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt