Kapitel 6 Golden

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Der Schock darüber, dass wir vermutlich aus unserem vertrauten zuhause ausziehen würden, hielt bis zum nächsten Morgen. Ich hatte mein ganzes Leben hier schon gewohnt, geboren war ich zwar im nächsten Krankenhaus, aber meine Eltern hatten damals schon hier gewohnt. Sola war dagegen in einer kleinen Wohnung in einer anderen Stadt aufgewachsen und erst mit meinen Eltern mit zwei hierher gezogen. An meine Großeltern väterlicherseits konnte ich mich nicht wirklich erinnern, mein Großvater war in der Nacht nach meiner Geburt gestorben und meine Oma am Tag vor meinem ersten Geburtstag. Sie hingen zwar mit so einigen anderen Familienbildern und unserem Stammbaum in einem goldenen Bilderrahmen an der Wand im Wohnzimmer. Eine ständige Erinnerung an alle die die zu unserer Familie gehörten.

Meine Eltern hatten gestern noch die Idee gehabt, das man das Haus vermieten, dann wäre das wo wir aufgewachsen waren nicht einfach weg, aber sie waren noch am Überlegen was sie vorhatten. Am Montagmorgen kam ich runter und meine Mutter lief schon mit dem Telefon am Ohr durch Küche und Wohnzimmer. Sie schloss mich in die Arme und zeigte auf den Kalender wo für meinen Vater Frühschicht eingetragen war. Sola aß schon konzentriert Frühstück und las nebenbei etwas auf ihrem Handy. Ein Vorteil, wenn die Eltern nicht aufpassten und telefonierten, normalerweise durfte das niemand bei Tisch und musste, wenn es so dringend war vom Tisch gehen.

„Magst du mir mal deine Handynummer geben", Sola hob den Blick vom Handy: „Ich muss dir was schicken." Das war kein Problem ich zog mein Handy aus der Hosentasche und diktierte ihr meine Handynummer, die sich echt nicht so schwer zu merken war. Wenig später schickte mir eine unbekannte Nummer auf meinem noch leeren WhatsApp zwei Links, einer von WhatsApp und einer führte zu einer Art Forum. Ich tippte den Forumslink an, er führte auf ein Forum namens Gendertreff, wo ich mich anmelden konnte. Ich schloss die Website lieber, da meine Mutter in dem Moment aufhörte zu telefonieren und durch die Schiebetür vom Wohnzimmer in das Esszimmer kam. Den WhatsApp Link konnte ich mir genauso noch später anschauen.

Wenig später in der Schule fing der Tag mit meinem Lieblingsfach, Deutsch wenigstens schonmal gut an. Frau Yildiz war eine junge ausgesprochen hübsche Lehrerin, die in ihren Unterricht viele Schülerwünsche einfließen ließ und Dinge die Kinder in unserem Alter bewegte. Dafür musste ich mich auch jeden Montag zu Sport quälen musste und der Lehrer die fünf Minuten die wir mehr brauchten, hinten dranhängte. Dazu war es ein Graus sich mit 13 anderen Jungen in einer stinkenden Umkleide umzuziehen. Meine Sportlichkeit wies große Differenzen auf, in Ballsportarten und Leichtathletik war ich recht gut, versagte jedoch an den Turngeräten und beim Tanzen kläglich. Aber diese Aufteilung nach Jungen und Mädchen schlug immer wieder in meinem Kopf ein und wollte nicht akzeptiert werden.

Die Jungen mussten im Prinzip alles besser und schneller können, etwas womit ich mit meinem Sportlehrer in der vierten Klasse ziemlich aneinander geraten war. Unser jetziger Sportlehrer war ein wenig älter und langsamer, aber er bestand nicht mit Druck auf seine Bewertungen nach den Vorgaben. Ganz im Gegensatz zu Biolehrerin, die nicht einmal ihre eigenen Fehler bei einer Arbeit korrigieren wollte. Als ich auf dem Weg mit der Bahn zur Sporthalle war, sah ich dann doch kurz auf mein Handy. Auf WhatsApp war ich von einer fremden Nummer zur Familiengruppe hinzugefügt worden, dem Namen neben der Nummer nach, war es meine Mutter gewesen. Ich speicherte meine Eltern rasch ab und steckte mein Handy wieder in meine Hosentasche zurück.

In Sport endete zu meiner Freude das Thema turnen und wir gingen zum Thema Leichtathletik über, was draußen auf einer Tartanbahn stattfand. Es war relativ warm für den 27. März, in meiner leichten Trainingsjacke und der weiten Sporthose fröstelte ich trotzdem. Na hoffentlich wurde es gleich wärmer und wir durften laufen. So kam es zu meinem Glück auch und der Lehrer jagte uns zwei Runden um den Platz zum Aufwärmen. Weiter ging es mit dem Weitsprung, 4,10 Meter mussten wir allein schon für eine eins springen, die Mädchen dagegen 3,83 Meter. Wieder wurden wir eingeteilt in Mädchen und Jungen, ein Vorteil der beiden Weitsprunggruben an dem Platz. Etwas zog sich wieder in mir zusammen als ich zu den anderen Jungen hinüberlief, die sich in einem gigantischen Haufen am Ende der Bahn positioniert hatten. Ich stellte mich etwas an den Rand der Gruppe und wartete darauf, dass sie zu Ende diskutiert hatten. „Dann gehen Carlos und ich als erstes ans Ausmessen", Jason streckte sich ausgiebig: „Der Rest springt."

Am Ende der Stunde hatte ich immerhin einmal die 3,50 Meter geknackt, was mich aber noch nicht unbedingt so glücklich machte, eine drei war mir noch zu wenig, aber wir hatten ja noch Zeit, um unsere Sprünge zu verbessern. Die 50 Minuten Heimfahrt kamen mir ewig vor, ich wollte endlich mir den zweiten Link, den Sola mir geschickt hatte ausprobieren. Ich ließ mich zuhause auf mein Bett fallen und zog mein Handy hervor. Die Gruppe ließ sich problemlos öffnen, es war ein Haufen fremder Nummern darin und Sola, ich ließ mich nach kurzem Überlegen dazu hinreißen beizutreten. „Hallo willkommen stell dich bitte vor", war die erste Nachricht die mir nur eine Minute Nach meinem Beitritt entgegenkam. Ich tippte auf die Gruppenbeschreibung, um nochmal sicherzugehen, dass ich mich richtig vorstellte. Das Bild was Sola am Freitag von mir gemacht hatte, hatte sie mir zum Glück auch geschickt, ich schickte es in den Chat. „Hi, ich probiere gerade noch den Namen Luna aus, bin 12 und als Junge geboren, ich möchte allerdings eigentlich ein Mädchen sein."

In der Gruppe war ich innerhalb von ein paar Minuten schon integriert, nur leider ging mir irgendwann die Motivation zum Schreiben aus und ich ging wieder offline und an meine Hausaufgaben. Dann musste ich meinen Eltern wenigstens nicht erklären warum ich die nicht gemacht hatte. Dann noch Lernzettel für Physik schreiben, dann war ich schon wirklich ziemlich weit gekommen bis meine Mutter um 16 Uhr nach Hause kam. Heute Abend konnte ich ja immer nochmal in die Gruppe schauen und etwas mit den Leuten dort schreiben, bisher waren sie recht nett zu mir gewesen, besonders der Admin der mich willkommen geheißen hatte. Luan hieß er, er war eher das Gegenteil von mir, geboren als Mädchen und mittlerweile zu großen Teilen ein Junge wobei er gerade einmal 17 war. Aber seine Eltern unterstützten ihn immerhin, im Gegensatz zu dem was unsere Eltern vermutlich tun würden.

An diesem Abend telefonierte meine Mutter mal wieder beim Abendessen wie schon beim Frühstück, diesmal allerdings nicht mit ihren Eltern. Mit jeder Minute die verstrich wurde ihr Gesicht ernster und ernster, sie sagte mehrfach: „Das ist nicht gut." Den Anfang des Gesprächs hatte ich nicht mitbekommen aber der Blick meines Vaters sprach Bände als er uns stumm bat leise zu sein. „Danke, dass Sie uns so schnell informiert haben", beendete meine Mutter schließlich das Gespräch und setzte sich an den Tisch: „Schlechte Nachrichten, mein Vater ist im Krankenhaus."

Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt