Kapitel 28 Grenze

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Wir brachten Jason am Nachmittag des nächsten Tages zum Bahnhof und warteten, bis er nach Hannover abfuhr. Meine Mutter, Sola und mein Großvater waren bei meiner Großmutter im Krankenhaus, die gerade wohl im MRT lag. Die Ärzte wollten sich ihre Schädigungen im Gehirn anschauen, mein Vater und ich fuhren nach Hause, mehr als drei Leute im Krankenhaus waren zu viele. Mein Vater kochte in der Hoffnung das meine Mutter im Gegensatz zu heute Morgen wenigstens irgendwas davon aß. Heute Morgen hatte sie einfach keinen Hunger gehabt und war auch nicht zum Frühstück gekommen, aus verständlichen Gründen. Sie hatte schon die Nacht kaum geschlafen und hatte wie ein Leichnam aussah, ihre Augen hatten Ringe von der Tiefe des Mariannengrabens. Sie war vom Aussehen über Nacht um zehn Jahre gealtert, wenn nicht sogar noch mehr.

Während mein Vater noch das Lieblingsessen meiner Mutter, Lasagne, kochte, in der Hoffnung, dass sie sich darüber wenigstens freute. Abgesehen von einem guten Geruch regte sich allerdings nur das Telefon meines Vaters, während er noch mit Fleischsoße, Lasagne Platten und Käse herummatschte. Ich angelte es von der Arbeitsfläche und warf einen Blick darauf, dann hob ich die Stimme, um das Zischen des Fleisches in der Pfanne zu übertönen: „Mama ruft an." „Geh dran", mein Vater bearbeite das Hackfleisch hartnäckig: „Und stell auf laut, damit ich hören kann, was sie sagt." Ich tippte auf das grüne Telefonsymbol und stellte den Lautsprecher an: „Mama ist alles in Ordnung?"

Lange kam keine Antwort von meiner Mutter, ich konnte jemanden etwas unverständliches im Hintergrund sagen hören. Es war eine weibliche Person, da war ich mir sicher, also Sola wahrscheinlich, zumindest hoffte ich das. „Es geht schon", die Stimme meiner Mutter klang belegt: „Ich versuche uns jetzt erstmal nach Hause zu fahren, dann reden wir. Papa lass das!" Sie reichte das Telefon an jemanden weiter, der sich als Sola herausstellte: „Hey Carlos, hallo Papa." Sie klang gefasster als meine Mutter und schlug gerade als mein Vater zu einer Frage ansetzte die Autotür zu. Mein Vater seufzte und bedeutete mir aufzulegen, es hatte gerade keinen Sinn mit ihnen zu reden, es wurde nur immer wieder unterbrochen.

Meine Mutter aß tatsächlich von der Lasagne meines Vaters, während sie aß begann Sola dann zögerlich zu erzählen. „Das MRT war nicht gut", sie putzte sich die von der Pollenallergie laufende Nase: „Der Schlaganfall hat große Schäden hinterlassen. Es kann sein, dass sie nie mehr sprechen können wird, es war ein Volltreffer im Sprachzentrum unter anderem. Sie kann auch bleibende Lähmungen davontragen, die Ärzte raten zu einem Pflegeheim, das kann man kaum alleine schaffen, vorallem nicht, wenn man wie ihr berufstätig ist." „Das ist eine Menge Arbeit", mein Vater starrte skeptisch auf seinen Teller: „Das Altenheim wo ich arbeite, kann im Moment niemanden mehr aufnehmen. Wir müssen uns über andere Möglichkeiten informieren, ich kann meine Kollegen fragen, wen sie so empfehlen würden."

Das Ende der Geschichte war, dass meine Eltern möglichst bald ein Heim beide suchen wollten, damit mein Opa nicht alleine hier durchdrehte. Das tat er sowieso an diesem Abend schon, immer wieder knallte im Erdgeschoss eine Tür und etwas polterte. Mein Vater lief die Treppe runter und beruhigte ihn, das Ganze wiederholte sich mehrfach bis halb elf. Dann bat er mich mit ihm die Matratze die Treppe hochzuschleppen, er half dann meinem Opa beruhigend murmelnd die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Ich legte mich dann wieder in mein Bett und schlief wenig später auch ein. Für mich war es eine ruhige Nacht, da war ich allerdings auch wieder die einzige, wie ich am nächsten Morgen feststellen durfte.

Meine Eltern und Sola saßen am nächsten Morgen völlig übermüdet am Frühstückstisch, ohne meinen Großvater allerdings. In ihrem Schlafzimmer war er auch nicht gewesen und sonst war es im Haus ziemlich ruhig, dass das Gründe hatte erfuhr ich beim Frühstück nur bruchstückhaft. Er war heute Nacht eskaliert, der Grund war, dass meine Oma im Krankenhaus war. Irgendwann war der ganze Stress so weit gegangen, dass mein Vater die Polizei gerufen hatte. Mit Blaulicht war er schließlich in die Polizeistation gebracht worden, Stand jetzt war er in einer Psychiatrie untergekommen als ein Notfall. Wahrscheinlich mussten wir ihn heute noch abholen und dann begann das Drama von neuem, denn niemand konnte ihn spontan aufnehmen. Kein Heim, kein Krankenhaus, keine Psychiatrie hatte Platz für ihn.

Tatsächlich mussten wir ihn erst am Abend abholen, mit dem Hinweis, dass man ihm dringend einem Psychiater vorstellen sollte. Es hatte auch dort zu Problemen geführt, dass er dement war und ohne seine Frau war er noch schlimmer. Sie konnten ihn nicht wirklich gut überwachen, die Klinik war schon überfüllt gewesen mit einer ellenlangen Warteliste. Meine Eltern telefonierten schon den ganzen Tag mit Pflegediensten und Heimen, in der Hoffnung, dass er irgendwo unterkommen konnte. Leider ohne wirklichen Erfolg, meine Eltern wussten nicht mehr wirklich weiter, bis meine Oma entlassen wurde, konnte noch Monate dauern. Bis dahin war es sicher besser, wenn wir ein Heim für meinen Opa fanden, in das er ziehen konnte, denn lange konnten wir das nicht aushalten.

Die Nacht war zumindest ruhiger, aber der Anruf des Krankenhauses machte es wieder weg innerhalb von Sekunden. Wir hatten noch nicht einmal gefrühstückt, deckten gerade erst den Tisch im Erdgeschoss, als das Telefon im ersten Stock klingelte. Mein Vater eilte nach oben, um den Anruf anzunehmen und wir hörten ihn oben reichlich laut reden, verstehen war allerdings eine andere Sache. Unsere Mutter ließ uns Brötchen holen und lief die Treppe nach oben zu meinem Vater, der auch als wir das Haus verließen noch telefonierte. Es war ein ziemlich warmer Samstagmorgen, es war gut, dass wir noch Ferien hatten und nicht bei bereits 25 Grad zur Schule mussten. Der Bäcker war einfach nur zwei Straßen entfernt und war in ein paar Minuten erreicht.

Zuhause war in der Küche niemand mehr, als wir die Brötchen abstellten, aber es wurde auch nicht mehr telefoniert. Meine Eltern fanden wir schließlich im Wohnzimmer im ersten Stock, mein Vater hatte den Arm um meine Mutter gelegt, die sich an ihn lehnte. Da wussten wir schon ohne Worte, was passiert war, mein Vater schickte uns mit einer Handbewegung weg und verzogen uns in Solas Zimmer. „Das ist nicht gut", stellte meine Schwester fest: „Papa hat schon damals die Beerdigung von seinen Eltern nicht gut verkraftet. Damals hat Mama alles gemacht, aber sie trauert ja jetzt auch und das muss sie auch dürfen, mein Vater wird das nicht durchhalten." Ich kratzte mich an meinem Nasenbein: „Dann müssen wir so gut helfen wie es geht, sonst wird sie irgendwo beerdigt, wo Platz ist."

Meine Eltern kamen nicht nach oben, als wir noch in Solas Zimmer mit verschiedenen Kleidungsstücken experimentierten. Erst als ich im Bett lag und ein wenig mit Luan in der Transgruppe schrieb, kamen leise Schritte die Treppe hoch und die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern knarzte. Sie kamen an diesem aber auch nicht wieder daraus hervor.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt