Kapitel 54 Hass

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Wäre es nach meiner Mutter gegangen, hätte ich sofort zu einem Endokrinologen für Hormonblocker gedurft. Meine Diagnostik war schließlich bis auf die Feindiagnostik abgeschlossen. Diese sollte aber ausführlich in den nächsten beiden Wochen sein. Jetzt nach dem Gespräch war allerdings erst einmal Wochenende und ich war angehalten, da es so aussah, dass ich nach den zwei Wochen nach Hause durfte, dass ich nach Hause fuhr. Das hieß für mich, dass ich zurück in die Wohngruppe fuhr mit dem Zug und am Bahnhof abgeholt wurde. Mein Vater wollte mich sowieso nicht mehr sehen und bei meiner Mutter wohnte ich ja derzeit nicht. Er hatte schon am Ende des Gesprächs üble Konsequenzen angedroht, die ich eigentlich mir schon hatte denken können. Aber erstmal musste er zur Besinnung kommen.

Ich wurde von einer Betreuerin zum Bahnhof gebracht. Von da ging es weiter mit dem Zug nach Braunschweig, wo ich auf meinen Anschluss warten musste. Auf Wunsch per WhatsApp von Marie ging ich daraufhin zu Burger King und holte uns in Maries Worten „Festtagsburger". Das Geld wollten wir uns am Ende teilen, schließlich hatten wir etwas zu feiern und Elian wollte auch zu Besuch kommen, allerdings mit einem eigenen Burger. Als ich mit den beiden Burger King Tüten und einem Getränk für die Fahrt zum Bahnsteig lief, hatte mein Zug auch schon wieder 15 Minuten Verspätung. Na das wurde ja ein Spaß, ich schrieb deswegen in die Wohngruppen Gruppe eine kurze Nachricht. Von Marie kam ein trauriges ‚Mehh warum DB?' zurück.

Aber mit am Ende zwanzig Minuten Verspätung kam mein Zug dann doch und innerhalb einer Viertelstunde war ich dann schon am Bahnhof. Marie und Frau Bach waren schon von weitem zu sehen. Marie trug ein orangefarbenes Shirt und hatte die Haare wesentlich kürzer geschnitten, dabei tanzte sie wild auf und ab. Frau Bach lächelte mir entgegen, als ich mit meiner Sporttasche bei ihnen ankam. „Schön, dass du da bist", sie umarmte mich kurz, bevor ich mich Marie zuwandte und sie fest an mich drückte. „Bring mich nicht um", Marie lachte und ließ mich wieder los: „Schön, dass du endlich wieder da bist." „Ich freue mich auch", ich musste auch lachen und folgte den beiden zum Auto der Wohngruppe. Sie standen etwas abseits des eigentlichen Parkplatzes, Platzmangel.

Marie war während der gesamten Fahrt aufgeregter als ich, vor der Begegnung mit Elian. Der war schon ewig gefühlt aus der Klinik entlassen und hatte schon Hormonblocker bekommen. Das war aber auch einfacher, mit einem gesetzlichen Betreuer, der das verstand. Meine Mutter teilte sich ja noch das Sorgerecht mit meinem Vater, der war grundsätzlich. Ich seufzte und stieg bei der Ankunft aus, Marie hüpfte grinsend vor mir aus der Beifahrertür. „Hallo Julius!" Ich hätte meinen Streitsüchtigen Mitbewohner fast nicht erkannt. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, waren seine Haare ein Stück über seine Ohren gegangen. Jetzt waren sie nicht länger als meine gerade erst Mittwoch geschnittenen Fingernägel. Marie warf mir nur ein freches Grinsen auf meinen Gesichtsausdruck zu: „Es gibt eine Menge Neuigkeiten."

Sie kam auch nicht umhin, sie mir direkt mitzuteilen, als wir später am Esstisch mit Elian saßen. „Julius wurde neulich erst mit Alkohol in seinem Zimmer erwischt", erklärte sie: „Die hat er sich wohl bei einem seiner Kumpels besorgt. Der Typ hat ihm übrigens auch die Haare abrasiert. Er sah schonmal noch schlimmer aus, der Typ hat Haut mitrasiert." Elian und ich begannen lauthals loszulachen und Elian spuckte ein Stück Burger aus. „Was hat er dann draußen gemacht? Da ist er doch quasi nie." Ich legte meinen Burger auf den Teller zurück und sah Marie an. „Strafe für die Sache mit dem Alkohol. Er muss den Hof fegen, damit er sein Handy wiederbekommt. Auch ne Anordnung von seinen Eltern soweit ich weiß, damit er das nie wieder macht.

Unser Gespräch ging noch eine ganze Weile weiter, ehe Elian nach Hause musste und dabei im Flur Julius. „Hallo Julius", hörten wir ihn sagen, die Antwort kam aber nicht mehr akustisch bei uns an. Marie und ich machten uns trotzdem schleunigst aus dem Staub, Julius wollte man nicht begegnen. Schon gar nicht, wenn er wie gerade unter einer Strafe stand. Marie begann zu kichern, als wir in meinem Zimmer verschwunden waren. „Oh man, der Typ macht mich fertig", sie ließ sich auf mein noch mit einer Schutzfolie bezogenes Bett fallen. Ich zog die Schutzfolie und ihrem Hintern weg: „Der ist halt ein Pubertierender Jugendlicher." Daraufhin erstickte Marie fast an ihrem Lachen und plumpste auf mein Laken. Ich zog meine restliche Bettwäsche aus dem Schrank und warf sie nach ihr.

Wieder in der vertrauten Umgebung der Wohngruppe zu sein tat gut. Aber ich hatte auch eine Aufgabenliste dabei. Die hatte mir Frau Fischer mitgegeben. Die Aufgaben sollte ich am Wochenende erledigen und von den Betreuern abhaken lassen. Duschen gehen stand auch auf der Liste, genauso wie ein Telefonat mit meiner Mutter und mindestens drei gemeinsame Essen. Ich durfte mich, egal wie sehr mich die Jungen der Gruppe triggerten, nicht zurückziehen. Das hatte ich mir mit dem Burger essen an dem Abend schon erspart. Jetzt kam nur noch das überfällige Duschen, auf das ich keinen Bock hatte. Aber es hieß nur schnell drunter, es irgendwie überleben und dann abzeichnen lassen, dann musste ich zumindest da nicht mehr durch das Wochenende.

Duschen war mittlerweile doch nicht mehr so schlimm, die Therapie hatte etwas gebracht. Trotzdem tat ich es immer noch höchst widerwillig. Als dann aber Frau Bach meine Liste mit einem Blick in meine nassen Haare unterschrieb musste auch ich grinsen. „Sehr gut, das erste abgehakt", sie gab mir die Liste wieder: „Du machst Fortschritte. Früher bist du so lange mit fettigen Haaren rumgerannt, bis wir dich fast unter die Dusche zwingen mussten." Ich seufzte: „Ja mir geht es aber schon deutlich besser." Dann warf ich einen Blick auf die Uhr: „Ich müsste einmal die Medikamente trotzdem nehmen." „Ich weiß" Frau Bach sah auch noch einmal auf die Uhr: „Ich gebe sie dir gleich." Dann gab sie etwas in ihre Liste ein, bevor sie mir die Tabletten gab.

So lange hatte man bei mir eigentlich nicht experimentieren müssen mit Medikamenten. Die Antidepressiva die man mir gerade gab, machten mich nicht mehr so müde nach Ende der Wirkzeit. Trotzdem war es besser sie abends zu nehmen, sie konnten vorübergehend für Konzentrationsprobleme sorgen. Die hielten zwar nur an, bis sich das Medikament besser im Körper ausgebreitet hatte. Trotzdem war das kein angenehmes Problem und ich war froh, dass ich nichts mehr zu tun hatte. Marie telefonierte in ihrem Zimmer, ich konnte sie im Flur schon hören. Aber Julius war zum Glück auch beschäftigt und ging mir nicht auf die Nerven dabei. Das war von Vorteil, ich musste mich so nicht konzentrieren. In meinem Zimmer setzte ich mich trotzdem fast neben mein Bett, merkte es aber noch.

Ich musste wohl vergessen haben meinen Handyklingelton auszuschalten, bevor ich um kurz nach acht eingeschlafen war. Mein Handy vibrierte neben meinem Kopf und schreckte mich um halb elf am Abend wieder aus dem Schlaf. Eine unbekannte Nummer rief mich an, weswegen ich zögerte, bevor ich den Anruf abhob. „Ja?" Eine kurze Pause entstand, dann antwortete eine Frauenstimme: „Spreche ich mit Carlos Jason Schmitz? Wenn nicht bitte an ihn weitergeben."


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt