Kapitel 51 Veränderung

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Am nächsten Morgen wurde ich von leisem Klopfen an die Tür geweckt und mit einem Mal kamen die Erinnerungen von der letzten Nacht wieder zurück. Die Sache auf der Brücke von gestern Abend, all das kehrte zurück, während sich die Traumwelt langsam löste. Mein Mitbewohner hatte nur ein zerwühltes Bett hinterlassen und ein Blick auf mein Handy verriet, dass es bereits Viertel vor neun war, schon lange Zeit zum Aufstehen. Ich schlurfte zur Tür und stand dann einer Frau gegenüber, deren Namensschild sie als Martina Juvlenko auswies. „Guten Morgen", ich blinzelte in das helle Licht des Flurs und sah die Frau an: „Hab ich irgendwie komplett verschlafen?" „Nein, nein", sie trat behutsam hinter mir ein: „Ich habe nur von deiner Betreuerin deine Kleidung bekommen."

Es stellte sich auch heraus, dass ich erst einmal mein Handy abtreten musste und ich mich nur noch schnell von meinen Freunden verabschieden durfte. Dann folgte ich der Betreuerin kurz ins Büro, wo sie mein Handy verstaute und mir dann noch ein belegtes Brötchen reichte. „Wird Zeit, dass du dich umziehst und dann am besten mit zur Kunstgruppentherapie kommst", befand sie während ich aß. „Okay", brav folgte ich ihr in mein Zimmer zurück und musste auf dem Weg feststellen, dass es wohl wirklich die geschlossene Abteilung war, denn eine Glastür trennte uns vom Treppenhaus ab. Davor standen zwei ältere Jungs und rüttelten schreiend daran. Frau Juvlenko eilte ihrer Kollegin zur Hilfe, die versuchte, die beiden davon abzubringen, damit die nicht noch das Glas einschlugen.

Mein blau-pinkes T-Shirt tauschte ich gegen einen Bustier, den ich schnell mit zwei Socken ausstopfte und ein dunkelblaues, dreiviertellanges Shirt ohne Aufdruck. In einer frischen Jeans und nicht der erdigen von gestern machte ich mich dann doch auf den Weg zu Frau Juvlenko zurück. Die nickte zufrieden bei meinem Anblick: „Sieht doch gut aus", befand diese: „Tut mir leid, dass wir keine Einzelzimmer oder so für dich übrig haben und dass du alleine laufen musstest." „Schon gut", ich zupfte an meinen Haaren herum: „Ich habe ja meine Tasche schon gehabt und anziehen kann ich mich ja." „Das ist schon mal gut", die Betreuerin führte mich den Flur entlang: „Wir müssen dich leider einmal messen und wiegen, falls du bald Medikamente bekommen solltest oder ähnliches."

„Du bist 1,73 Meter groß und wiegst 56 Kilogramm", Frau Juvlenko schrieb sich die Werte auf: „Das ist alles im normalen Bereich." „Okay", ich zog mir meine Sachen wieder an und folgte ihr wieder aus dem Büro und in einen Raum, wo schon in zwei Minuten die Kunsttherapie beginnen sollte. Einige andere Patienten waren auch schon da, die beiden Jungs aus dem Flur waren allerdings zum Glück nicht dabei. „Hallo", eine normal wirkende Frau trat ein, die langen braunen Haare hatte sie sich zum einem Dutt hochgebunden: „Herzlich willkommen zur Kunsttherapie." Sie erklärte rasch, dass die anderen an ihren Bildern weiterarbeiten sollten und erklärte dann mir, dass wir einfach nur die Gefühle aus einer schönen Erinnerung malen sollten. Ich hasste Kunst schon seit der Grundschule, aber was musste, das musste.

Mein Bild stellte gar nicht so richtig die Gefühle dar, meines war mehr eine Zeichnung von zwei Strichmännchen auf einem felsigen Berg. Dargestellt hatte ich es mit etwas Hilfe von einem anderen Mädchen, bei Sonnenaufgang auch, wenn ich noch nie bei Sonnenaufgang auf einem Berg gewesen war. „Das sieht doch echt gut aus", die Therapeutin stellte sich hinter mich: „Sehr schönes Bild, richtig schön gemalt. Du hast echt Talent auch, wenn du vorher nicht so begeistert wirktest." „Danke", ich zog den Kopf ein und betrachtete mein halb fertiges Bild: „Ich habe einfach gemacht was mir eingefallen ist." „Du verarbeitest schnell Gefühle", die Frau zog weiter und ich verschwieg ihr lieber, dass das was ich gerade gemalt hatte, nicht viel mit meinen eigentlichen Problemen zu tun hatte.

Das hatte ich aber auch gerade nicht vor irgendjemandem mitzuteilen, gerade genoss ich es einfach, dass ich einfach nur Luna genannt wurde und keiner irgendwas anderes wusste. Wäre da nicht mein Mitbewohner, den ich nach der Therapie auf dem Zimmer wiedertraf. „Warum teile ich mir eigentlich mit einem Mädchen das Zimmer", wollte er von Frau Juvlenko wissen, die ihm daraufhin das Problem erklärte. Von ihm kam keine sinnvolle Antwort mehr dazu, er zuckte nur mit den Schultern und setzte sich wortlos wieder auf sein inzwischen gemachtes Bett. „Wie heißt du denn jetzt", knurrte er schließlich: „Wir teilen uns ein Zimmer und wissen nicht einmal die Namen voneinander." „Ich bin Luna", stellte ich mich deswegen einfach mal schnell vor bevor er noch etwas sagen konnte: „Du?"

Julian, mein Mitbewohner brachte mich auch gleich mit zum Mittagessen, das getrennt von den normalen Stationen stattfand. Nachmittags war noch einmal Sporttherapie, was laut Julian meistens joggen oder wandern im nahegelegenen Elm je nach Gruppengröße. „Na dann wollen wir mal", wir hatten uns nach dem Essen schnell umgezogen, ich trug ein Vereinsshirt und eine kurze Hose. Den Bustier hatte ich wegen der Unbequemheit mit den Socken doch ausgezogen, es war sowieso relativ warm für Mai. Zu meiner Überraschung war es aber kein Laufen heute, sondern mein liebstes Grundschulspiel, Völkerball. Für mein Aussehen gab es keine seltsamen Kommentare meiner Mitspieler oder der Gegner, Julian spielte den König und rettete uns sicher zweimal vor einer Niederlage. Es freute ihn sichtlich, was ich ihm auch gönnte.

„Soll ich dir noch die Duschen zeigen", Julian saß wieder auf seinem Bett: „Du bist um ehrlich zu sein echt verschwitzt." Ich hatte auch zugegebenermaßen seit mehr als drei Tagen nicht mehr geduscht, weswegen ich mir mein Shampoo aus der Tasche suchte und dankbar nickte. „Handtuch bekommst du im Büro und gib besser dein Deo noch ab", Julian stand von seinem Bett auf: „Sonst bekommst du nur Ärger, du kannst es da jederzeit nehmen unter Aufsicht." „Okay, kein Problem", ich nahm das Deo aus meinem Kulturbeutel und folgte ihm aus dem Zimmer und zum Büro. „Ich sollte noch mein Deo abgeben", wandte ich mich an den jetzigen Betreuer dort und reichte ihm rasch die Dose." „Danke Luna", er lächelte Julian kurz an.

Die Dusche fiel mir erstaunlich leicht für meine Verhältnisse, ich konnte mich sogar halbwegs entspannen. Mit meiner privaten Jogginghose und im T-Shirt ging es mir dann auch schon deutlich besser und ich eilte mit einem erleichterten Lächeln wieder zu Julian zurück. „Schon besser", mein Zimmernachbar lächelte mich kurz an und vergrub den Kopf wieder in seinen Händen. „Alles in Ordnung", wollte ich von ihm wissen und erntete ein müdes Lächeln und ein schwaches Nicken: „Sag Bescheid, wenn sich das ändert." Ich legte mich auf mein Bett und begann in einem der Bücher aus meiner Tasche zu blättern, Ablenkung tat dann doch schon irgendwo ganz gut gerade, zumindest so, dass ich noch etwas mitbekam. Zum Beispiel, dass wir zum Essen gerufen wurden, die Uhr hatte ich längst aus den Augen verloren.

„Möchtest du nichts essen", wollte ich von Julian wissen, der mittlerweile auf dem Rücken im Bett lag und die Decke anstarrte. Sein Kopfschütteln übersah ich fast und lief dann alleine zum Abendessen, es war wenigstens eine angenehme Angelegenheit. Ich konnte in Ruhe ohne irgendwelche seltsamen Blicke essen und hatte danach noch ein wenig Handyzeit, wie der Rest auch. Marie hatte mich anders als erwartet nicht beschimpft, sondern machte sich Sorgen.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt