Kapitel 41 Fall

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Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht und Sola von dieser beschissenen Straße weggerissen, um zu verhindern was jetzt kam. Meine Mutter kämpfte um mein Sorgerecht, obwohl sie nicht einmal aus der Psychiatrie in Bayern entlassen war. Sie wollte es meinem Vater entziehen lassen, aus Gründen die ich nicht verstand, sollte zu ihr nach Bayern ziehen. Es war heute mal wieder einer der Tage, wo ich alleine zuhause war, weil mein Vater vor Gericht aufschlagen musste. Er würde wahrscheinlich auch über Nacht wegbleiben, ich hatte das erste Mal in meinem Leben wirklich sturmfrei. Aber so richtig genießen konnte ich es nicht, es war mitten in der Woche, Morgen hatte ich wieder Schule. Ein Mittwochnachmittag war einfach auch ein super Tag dafür, fand ich.

Es fiel mir schwer darüber nachzudenken, was ich jetzt am besten machte, ich musste mir alleine ein Mittagessen machen. Mein Vater hatte mir zwanzig Euro für Essen und Notfälle dagelassen, bisher hatte ich keinen Cent davon auch nur ausgegeben. Aber das erste was ich tat, war allerdings Mia anzurufen: „Hey, mein Vater ist wirklich los, ich habe endlich meine Ruhe für heute Abend, magst du dich treffen?" Am anderen Ende der Leitung raschelte es leise: „Moment ich frage mal kurz meine Eltern. Du meintest ja, dass heute eventuell eine Entscheidung fällt, dann bist du nicht alleine bei der Entscheidung und kannst vielleicht hier übernachten. Meine beste Freundin schaltete kurz ihr Mikrofon stumm und kam erst einige Minuten später wieder: „Du kannst deinen Rucksack packen und herkommen."

Ich brauchte gerade einmal eine halbe Stunde, dann stand ich vor Mias Haustür und drückte auf die Klingel. Sie wohnte allerdings auch nur gut zehn Minuten von mir entfernt mit dem Rad, aber es war dennoch überraschend schnell gegangen. Mia schloss mich fast direkt in die Arme als sie öffnete, ich drückte sie fest an mich und hob dann den Blick zu Herrn Diemann, Mias Vater, der aus der Küche in den Flur kam. „Es gibt gleich Mittagessen, ich hoffe du magst Nudeln mit Paprika-Käse-Soße", meinte er zu mir und ich versicherte ihm lieber rasch, dass mir das Recht war. „Wir gehen schnell mal in mein Zimmer", Mia löste sich von mir: „Dann kannst du deine Sachen auspacken, wir haben für Schule einen zweiten Stuhl an meinen Schreibtisch gestellt."

Zu den Hausaufgaben kamen wir vor dem Mittagessen allerdings nicht mehr, nur noch dazu, den Schreibtisch so zu sortieren, dass ich einen eigenen Platz hatte. Erst nach den Hausaufgaben und einem Spiel Mensch-Ärgere dich nicht mit Mias Bruder Lukas, kam eine Nachricht von meinem Vater. Die Verhandlung wird wie vermutet Morgen fortgesetzt, es gibt noch kein Ergebnis. Mach dir noch einen schönen Tag! Ich schickte nur einen Daumen hoch zurück und dann ein Selfie von Mia und mir am Schreibtisch mit der Beschreibung, wo ich war. Mein Vater wünschte mir viel Spaß und ging dann wieder offline, während wir dann noch eine weitere Runde Mensch-Ärgere dich nicht aufbauten.

Am Abend schlief ich dann in Mias Zimmer auf einer Gästematratze auf dem Boden, während meine Gedanken hierhin und dahin kreisten, ohne sich wirklich festzulegen. Mia schlief schon längst tief und fest, aber mein Kopf wollte mir keine Ruhe lassen, ich wusste nicht warum. Ich kuschelte mich fester in die Decke und schloss die Augen, im Haus meiner besten Freundin herrschte Totenstill, ich meinte nur die Katze der Familie mit irgendetwas klappern zu hören. Die Tür stand ein paar Zentimeter offen, aber es fiel kein Licht mehr hindurch, es war einfach keiner mehr wach. Ich zog mein Handy unter Mias Schreibtischstuhl hervor, wo es an der Ladung klemmte und mir jetzt 23: 49 Uhr anzeigte. Es war höchste Zeit, dass ich endlich schlief, aber es klappte bisher einfach nicht, ich stellte die Helligkeit meines Handys auf das Minimum herunter.

Am nächsten Morgen saß ich eigentlich nur schweigend in der Schule und reagierte auch kaum auf Ansprache. Ich hatte zwar immerhin über sechs Stunden geschlafen, aber mir fehlte jegliche Kraft heute für irgendetwas. Es klopfte in der fünften Stunde an der Klassenzimmertür, wir hatten gerade Englisch und der Schulleiter kam herein. „Ist Carlos Schmitz hier", ich nickte und hob die Hand: „Komm bitte mit, das Jugendamt ist da." Meine Gedanken rasten, bei den Worten aber Mia legte mir kurz den Arm um die Schultern und schob mich sanft von meinem Stuhl: „Wird schon nicht so schlimm sein." Ich folgte dem Schulleiter schweigend durch die leeren Schulflure, die mir dadurch noch länger vorkamen. Der Schulleiter sagte aber auch kein Wort und trat schließlich in sein Büro.

Eine junge Frau saß auf einem der Besucherstühle, sie war vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig. „Hallo ich bin Frau Hinterrenner, ich bin vom Jugendamt." „Hallo", gab ich ein wenig eingeschüchtert zurück: „Ist irgendwas passiert?" Die Frau seufzte: „Ich würde sagen ja und gleichzeitig nein. Vor Gericht wurde beschlossen, dass man dich erstmal in einer Einrichtung unterbringt. Deine Eltern werfen sich wirklich die schlimmsten Dinge an den Kopf, aber weder noch ist bisher wirklich bestätigt, wir möchten dich da raus halten, bis eine Entscheidung gefallen ist." Mein Schulleiter legte mir sanft die Hand auf den Arm und sah mich beruhigend an, damit ich nicht abhaute oder durchdrehte. Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte widerstrebend: „Wohin muss ich denn dann?"

Wie sich dann herausstellte ging es erstmal für mich in eine Gruppe wo Jugendliche übergangsweise wohnten. Nach dem Schulschluss ging es für mich zu Mia zurück, um meine Sachen abzuholen und dann nach Hause, um ein paar Sachen erstmal einzupacken für meinen Umzug. Mein Fahrrad passte in den Kofferraum des VW-Busses der Gruppe, meine Tasche und meinen Schulrucksack warfen wir auf den Rücksitz. „Alles gut", Frau Timmerlahn, die Leiterin der Gruppe sah zu mir als ich mich auf dem Beifahrersitz anschnallte. Ich nickte stumm und sie legte mir die Hand kurz auf die Schulter: „Du kannst ja zumindest deinen Vater regelmäßig sehen und zu deinem Fußballverein ist es nicht weiter, eher kürzer."

Die Gruppe war ein alter Hof mit vier Häusern, ich wurde in das zweite Haus eingeteilt und bekam ein Zimmer im zweiten Stock. Eine der Betreuerinnen half mir schweigend meinen Schrank einzuräumen und meine Schulsachen zu sortieren, dann nahm sie mich mit zum Mittagessen. Drei Jungen und vier Mädchen lebten abgesehen von mir in der Gruppe, es gab einen Nudelauflauf und meine Mitbewohner schienen ungewöhnlich interessiert an mir. „Ich bin Mara", stellte sich das eine Mädchen in meinem Alter vor, sie war unglaublich hübsch, mit ihren langen schwarzen Haaren und ihren fast schon rötlich erscheinenden braunen Augen. „Carlos", stellte ich mich schlicht vor und wartete bis sich die anderen vorgestellt hatten und etwas zu essen hatten.

Mein Vater schickte mir erst deutlich später eine völlig verheulte Audio, aber ändern konnte er an der Entscheidung des Richters nicht mehr ändern. Ich blieb da wo ich war erstmal, aber wie viel das noch ändern würde konnte ich ja noch nicht ahnen.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt