Kapitel 55 Wiederholung

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„Ja, der bin ich", antwortete ich widerwillig: „Was ist los?" „Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir ihre Mutter tot aufgefunden haben." Die Stimme der Frau am anderen Ende war seltsam emotionslos: „Es liegt der Verdacht nahe, dass sie ermordet wurde. Gefunden wurde sie vor ihrem Hotel in Braunschweig. Haben Sie Vermutungen wer sie ermordet haben könnte?" Ich grub die Zähne in meine Unterlippe: „Nein mir würde niemand einfallen, der so etwas tun würde, tut mir leid." „Schon gut", die Stimme der Frau klang plötzlich sehr belegt: „Es tut mir sehr leid für Sie." „Muss ich mit leben", krächzte ich leise: „Danke, dass Sie mich so schnell informiert haben." „Bitte", dann legte die Frau auch schon wieder mit einem leisen Fluch auf.

Die Wohngruppe war auch informiert worden, wie ich wenig später erfuhr. Die Nachtwache kam wenig später in mein Zimmer. Ich wollte aber nicht wirklich reden. Morgen würde schlimm genug werden. Ich musste Marie davon erzählen, wollte sie aber nicht mehr um kurz vor 11 wecken, sie musste Morgen früh aufstehen. Konfirmandenunterricht bei ihr stand an, der begann schon um acht. Das war keine gute Idee, aber die Nachtwache war da anderer Meinung: „Ich wecke Marie." Beschloss sie und lief aus meinem Zimmer bevor ich protestieren konnte. Marie kam wenig später im Nachthemd in mein Zimmer: „Sag nichts, hab es schon gehört." Sie setzte sich zu mir aufs Bett und legte mir den Arm um die Schulter: „Es tut mir leid Luna." Ich lehnte mich kopfschüttelnd an ihre Schulter.

Marie schlief bei mir mit im Bett, auch wenn das die Nachtwache nicht gerne sah. Sie ließ es jedoch durchgehen, wegen meiner psychischen Situation. Marie musste trotzdem um sieben aufstehen, was sie aber irgendwie schaffte, ohne mich zu wecken. Ich selbst wurde erst um kurz vor zehn von Frau Timmerlahn geweckt und zum Frühstück geholt. Es gab frische Brötchen mit Aufstrich und dazu Rührei. Außer Marie, die ja beim Konfirmandenunterricht war, fehlte noch Julius. „Der ist in seinem Zimmer und schmollt", Frau Timmerlahn schnitt mir ein Brötchen auf und legte es auf meinen Teller. Ich klatschte bewusst langsam Rührei darauf: „Wieso schmollt er denn jetzt schon wieder?" „Ach er steht doch auf die Marie", Frau Timmerlahn nahm mir die Pfanne mit dem Rührei ab.

In den nächsten Minuten erfuhr ich, dass er seit ich weg war, immer wieder versucht hatte, sich an Marie ranzumachen. Geklappt hatte es natürlich nicht, Marie hatte ihn immer wieder abgewiesen. Heute Morgen hatte er extra versucht sie im Nachthemd abzupassen. Ohne, dass ich es mitbekommen hatte, hatte sie ihn so zusammengeschissen, dass er es wohl nicht nochmal versuchen würde. Das zauberte ein kleines Lächeln zumindest auf meine Lippen, Marie war unglaublich stur. Sehr zu Julius Leidwesen offensichtlich, denn seine Strafarbeit erledigte er an diesem Tag und auch am Sonntag bis zu meiner Rückreise. So bekam er allerdings auch sein Handy logischerweise nicht zurück, was ihn nicht unbedingt besser stimmte. Aber er hielt Marie gegenüber wenigstens nun den Mund und starrte mich nur böse an.

Die Beerdigung meiner Mutter war nicht viel später. Ihr Todesgrund lautete Vergiftung mit Nickeltetracarbonyl, also eindeutig ein Mord. Aber wer das getan hatte, war niemandem wirklich klar, sie konnte es uns auch nicht mehr sagen. Aber ihre Verfügung war immer noch nicht rausgerückt worden. Zumindest bis ich von Frau Bach zur Beerdigung gefahren wurde. Solange die Verfügung nicht stand musste ich auch nicht aus der Gruppe ausziehen. Meine Diagnostik war mittlerweile abgeschlossen, die Diagnose hatte ich bekommen. Sie fehlte nur noch schriftlich. Aber auch das würde nicht mehr all zu lange dauern. Aber kaum, dass ich an der Kirche ankam, fing mich eine Frau im schicken Anzug an. Sie musterte mich mit einem skeptischen Blick: „Bist du Carlos Schmitz?" Ich nickte verwirrt.

„Ich bin Fiona Winter. Ich bin die Notarin deiner Mutter", erklärte sie dann: „Sie hat ein paar Verfügungen für dich hinterlassen. Das beinhaltet leider nicht, dass deinem Vater das Sorgerecht entzogen wird. Aber sie hat ein Testament hinterlassen. Dein Vater ist damit nicht einverstanden. Aber sie hat bestimmt, dass du Hormonblocker bekommen wirst. Alle weiteren Folgen muss das Jugendamt dann noch mit dir in den nächsten Tagen sicherlich besprechen. Das ist eine Menge was da auf dich zukommt, soweit ich weiß. Aber ich habe keine Ahnung davon, tut mir leid." Ich starrte sie einige Sekunden lang sprachlos an. Im Endeffekt hieß das ja, ich musste nicht durch die Pubertät, die bei mir ja auch schon ein bisschen begonnen hatte. Die Notarin gab mir noch einen Briefumschlag und verschwand dann.

Frau Becker, meine Betreuerin vom Jugendamt kam am Montag darauf vorbei. Sie kam unangekündigt am frühen Nachmittag. „Hallo Luna, guten Tag Frau Timmerlahn", begrüßte sie uns: „Ich bringe Neuigkeiten. Aber das Wichtigste zuerst, du darfst erst einmal hier bleiben, dein Vater will dich nicht mehr zu Hause sehen. Heißt wir suchen dir in der nächsten Zeit eine Wohngruppe, wo du dann leben wirst, bis du 18 bist. Das hier ist ja nur eine Notfallunterkunft, aber vielleicht hilft es dir ja auch von Zuhause weg zu sein." Einen kurzen Moment dachte ich über ihre Worte nach, dann nickte ich: „Aber das Testament meiner Mutter gilt trotzdem oder?" „Natürlich", meine Betreuerin nickte: „Das wird nicht von deinem Vater oder dem Amt ungültig gemacht."

Mein Vater hatte mich außerdem auch noch auf WhatsApp blockiert stellte ich später am Tag fest. Aber immerhin ohne weitere Kommentare oder Ausraster. Nichts sprach dagegen, dass ich mir eine Überweisung aus der Psychiatrie noch holte und dann mir einen Endokrinologen zu suchen. Hilfe hatte ich ja hier schon dafür, die Mail schrieb ich noch am selben Montagnachmittag. Die Antwort kam aber erst am nächsten Morgen. Sie würden mir eine Überweisung ausstellen und freuten sich für mich. Abholen musste ich sie leider trotzdem selbst. Hieß für mich eine Fahrt nach Königslutter mit dem Zug, mit dem Auto ging es kaum schneller. Aber ich bekam das Taschengeld um mir so eine Fahrt leisten zu können. Außerdem war noch nicht klar, ob ich nicht einen Teil der Kosten wiederbekam.

„Bist du dir ganz sicher, dass du mitwillst", ich starrte Marie mit verschränkten Armen an. Sie grinste zu mir hoch: „Ja, will ich." Ich seufzte: „Na gut meinetwegen, du bezahlst das Ticket selber, das mache ich nicht." „Jaja", Marie sprang auf und schleifte mich die Treppe runter und zum Fahrradschuppen. Mit dem Fahrrad machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Von da ging es nur mit dem Zug weiter, über Braunschweig nach Königslutter. Marie dackelte mir einfach durch den Bahnhof hinterher und wartete einfach nur schweigend als ich mir meine Überweisung abholte. Dazu bekam ich noch meinen Bericht für einen niedergelassenen Psychiater. Ich hatte bei mehreren angefragt, aber das würde noch eine Weile dauern. Das war nicht nur mir bewusst, sondern auch Marie.

Aber mit der Überweisung konnte ich einen weiteren Schritt in die richtige Richtung machen. Ich konnte einen Endokrinologen damit anschreiben. Mit dem Testament hatte ich ja auch eine Erlaubnis von meinen Eltern dafür. Aber dafür war mehr nötig, auch wenn ich die Unterlagen dafür schon hatte. Dazu kam ja auch noch der Fakt, dass ich bald umziehen sollte, es musste sich auch noch darum gekümmert werden. Das war noch einmal aufwendiger als das andere.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt