Kapitel 53 Wahrheit

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Dann kam der Tag vor dem es mir schon so lange grauste. Der Tag an dem ich meine Diagnose erhalten sollte, vom Chefarzt meiner Station. Es war mittlerweile Juni geworden, die Sonne brannte heiß durch die Fenster von der Normalstation. Die Diagnostik war lang und Zeitaufwändig gewesen, aber ich war mir relativ sicher, dass sie so gelaufen war, wie ich es vermutete. Meine Eltern waren ebenfalls nach Königslutter gefahren, sie mussten es sich zu meinem Leidwesen auch anhören. Eigentlich wünschte ich, sie wären nicht da, aber ich war nun einmal noch minderjährig. Sie mussten es leider auch, ich kam nicht darum herum. Ihnen würde die Diagnose mit Sicherheit nicht gefallen, vorallem nicht das was sich anbahnte bei mir. Ihre Reaktionen konnte ich nicht einschätzen.

Die Psychologin, die meine Diagnostik durchgeführt hatte, holte mich zu dem Gespräch aus der Kunsttherapie ab. „Es geht los, deine Eltern sind schon da." Meinte sie zu mir als wir uns auf den Weg durch die Gänge zum Büro machten. Meine Eltern saßen schon mit großem Abstand voneinander auf zwei Besucherstühlen und warfen sich giftige Blicke zu. Ich ließ mich auf den dem dritten Stuhl nieder, während sich die Psychologin zu ihrem Chef auf die andere Seite des Tisches setzte. „Schön, dass Sie auch wirklich gekommen sind", der Psychiater warf mir einen strengen Blick zu und ich zog den Kopf ein. „Frau Fischer hat Ihr Kind in den letzten Tagen und Wochen diagnostisch behandelt. Sie hat ein paar wichtige und Lebensrelevante Ergebnisse gefunden."

Meine Mutter warf meinem Vater einen undeutbaren Blick zu und sah mich an: „Was bedeutet das?" „Das werde ich ihnen gleich sagen", der Arzt zog einen Zettelstapel aus einem Fach und legte ihn vor uns. „Die Hauptdiagnose nennt sich Geschlechtsdysphorie. Umgangssprachlich nennt man diese dann auch Transgender. Heißt dann in Klartext, dass Ihr Sohn nicht Ihr Sohn, sondern Ihre Tochter ist. Meine Kollegin hier, Frau Fischer hat eine Menge Tests mit ihr schon gemacht, unter anderem einen Ausflug wo sie sich als weiblich gibt. Es war alles sehr, sehr eindeutig und spricht für die Diagnose." Er legte einige Fotos von dem Ausflug vor. Ein Foto von mir in einem langen dunkelroten Kleid war auch mit dabei. Meine langen Haare waren offen und nicht wie gerade zusammengebunden.

„Das gibt es nicht", nach einem verdatterten Schweigen durchbrach mein Vater das Schweigen: „Transgender ist ein neumoderner Mumpitz. Verarschen Sie mich nicht. Er hat nichts also laut Ihnen, dann nehme ich ihn wohl besser mit nach Hause. Dann kommt er endlich zur Vernunft und hängt nicht mehr so depressiv in der Ecke so wie er gerade da sitzt." Frau Fischer sah mich an, ihr Blick sprach einfach nur Bände. Darüber hatten wir zwar auch gesprochen, aber wahrscheinlich hatte sie nicht mit dieser Heftigkeit von seiner Meinung gerechnet. Aber sie sagte erst einmal nichts dazu und starrte meine immer noch schweigende Mutter an. Diese blieb aber auch erstmal noch weiter stumm und sah mich unentwegt an. Der Psychiater sah mich unentwegt an, wartete auf meine Reaktion.

Doch die erste Reaktion kam dann aber schon von meiner Mutter: „Was bedeutet das für ihn- ich meine sie, Entschuldigung." Sie sah mir in die Augen, Augen die Solas so verdammt ähnlich sahen brannten sich in meine. „Das bedeutet, dass wir ihr jetzt am besten helfen können", er sah meiner Mutter in die blaugrauen Augen. „Norbert geh mal raus, jetzt", meine Mutter sah meinem Vater streng in die blauen Augen. Ich konnte sehen, wie sehr er vor Wut kochte. Aber er stand auf und stapfte aus dem Büro, während sich meine Mutter wieder Frau Fischer und dem Psychiater zuwandte. „Sie müssen wissen, ich bin selbst Psychologin", sie machte eine kleine Pause: „Ich war nur seit Oktober einige Zeit selbst in Behandlung und weiß wie das läuft."

Sie und Frau Fischer lieferten sich nach dieser Aussage einen schweigenden Anstarrwettbewerb. Ich biss mir auf die Lippe und sah zwischen den beiden hin und her, bis meine Mutter fortfuhr. „Ich hatte schon ein paar Mal mit Transgender Jugendlichen zu tun. Das hat mir auch schon die Verfahren dafür eröffnet und ich weiß, was alles auf meine Tochter zukommen wird. Mein Ex-Mann wird dem aber im Wege stehen, denn er hat das Sorgerecht noch und wird es auch vermutlich mit behalten. So leid es mir für mein Kind gerade auch tut." Mir wurde bei ihrem Sanften Blick warm ums Herz und ich erwiderte ihren Blick lange. „Ich habe auch schon einen Namen für mich gefunden", sagte ich dann langsam und bekam noch mehr Aufmerksamkeit: „Luna."

Wir verfielen wieder in Schweigen, bis meine Mutter dichter an mich heranrückte und den Arm um meine Schultern legte. „Wir finden dafür schon eine Lösung Luna", ich legte den Kopf an ihre Schulter und ließ mich von ihr liebkosen. „Ich hoffe es", krächzte ich leise und meine Mutter sah Frau Fischer wieder an: „Wie lange muss sie noch hier bleiben?" „Noch ein bisschen", erwiderte der Psychiater leise: „Weswegen würden wir gerne mit Ihrem Ex-Mann und Ihnen besprechen. Es wäre also ganz gut, wenn sie ihn wieder reinholten, so wütend er uns alle gerade auch macht." Meine Mutter seufzte und ging ihn offensichtlich widerwillig suchen, was einige Zeit anscheinen in Anspruch nahm. Dann endlich waren sie wieder da und setzten sich auf die Stühle.

„Das Gute ist", Frau Fischer nahm das Gespräch wieder auf, als sei nichts passiert: „Dass wir feststellen konnten, dass sie nicht wirklich depressiv ist. Das was wir im Zusammenhang mit Depressiven Zeichen gesehen haben, hängt alles mit dieser sogenannten Genderdysphorie von Luna zusammen. Heißt, sie fühlt sich in einer so aussichtslosen Situation, dass ein Suizid der letzte Ausweg für sie war. Es ist erschreckend, dass das schon bei einer dreizehnjährigen auftritt, die seit sie zwölf ist, weiß, was Transgender ist." „Meine andere Tochter", meine Mutter legte den Arm um mich und warf meinem Vater einen giftigen Blick zu: „Sie ist im letzten Oktober verstorben. Sie und Luna standen sich sehr, sehr nahe. Näher als die meisten Geschwister in dem Alter, sie hat ihr denke ich viel geholfen."

Es herrschte wieder eine Weile Stille in der sich meine Eltern böse Blicke zuwarfen. Die Beiden auf der anderen Seite des Tisches verfolgten das Debakel einfach nur schweigend. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihnen beim lautlosen Schlagabtausch zu. Der Chefarzt brach schließlich das Schweigen: „Warum wir sie aber gern hierbehalten würden noch, ist die zweite Verdachtsdiagnose. Sie lautet nach ICD-10 Asperger-Syndrom. Alle Tests weisen darauf hin, dass sie wirklich von diesem, beziehungsweise umgangssprachlich Autismus genannt, betroffen ist. Das ist erst einmal überhaupt nichts Schlimmes, aber das könnte ein bisschen was von ihrem Verhalten erklären. Ihre andere Tochter, Sola richtig? War für sie eine Art unbetroffenes Vorbild, was sie noch wichtiger für sie gemacht hat. Deswegen trifft sie der Verlust auch noch härter."

Mein Vater stand dann plötzlich auf und packte mich am Arm: „Das ist doch völliger Blödsinn. Er hat nichts, dazu muss er nicht mal hierbleiben. Du kommst jetzt mit nach Hause!" Meine Mutter sprang dann plötzlich auch auf und riss ihn von mir los: „Hast du den Verstand verloren? Du bringst sie nur wieder dazu, dass sie von der Brücke springen will! Wenn sie nicht gefunden wird, dann ist sie tot!"



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