Kapitel 8 Kröten

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Es war ein seltsames Gefühl mit vier Mädchen durch die Stadt zu laufen und immer wieder da und dort in einen Laden zu schauen. Es hob allerdings meine Laune deutlich mit jedem noch so kleinen Laden den wir betraten und uns die Kleidung in der Mädchenabteilung ansahen. Was Sola ihnen genau gesagt hatte wusste ich immer noch nicht, aber Lana, Sarah und Alessia behandelten mich als wäre ich eine von ihnen. „Lass mal da vorne rein, da ist Sale", Sarah deutete auf eine große Kleidungskette: „Ist zwar wahrscheinlich nicht das was die größten Marken verkauft, aber besser als Primark, das ist hauptsächlich billig." Wir betraten den ziemlich nach neuer Kleidung riechenden Laden und steuerten direkt auf die Rolltreppen zu, um in den zweiten Stock, zur Mädchen- und Frauenbekleidung zu fahren.

„Das steht dir doch", Sola begutachtete den Rock, den ich gerade angezogen hatte ausgiebig: „Der ist auch nicht zu kurz." Über ihren zweiten Kommentar bekam Lana einen heftigen Lachanfall und musste sich an der Umkleide neben ihr abstützen, um nicht umzufallen. „Definitiv, anders als bei mir", japste sie und hielt sich den Bauch, wenn sie weiter über alles lachte, würde sie noch Muskelkater im Bauch bekommen. Sie hatte den Rock vor mir anprobiert, allerdings war sie über 1,80 Meter groß und ziemlich schlaksig, keine der verfügbaren Rockgrößen hatte ihr gepasst. Dann hatte allerdings Sola beschlossen, dass ich den in blau gehaltenen Rock auch anprobieren könnte und mir die zweitkleinste Größe rausgesucht. Sie passte überraschenderweise auf Anhieb und reichte mir bis an die Knie. Die Sammlung der Einkäufe stapelte sich in einer Kabine, die wir zu fünft belagerten, Alessia war gerade in der Umkleide verschwunden, um einen Sport-BH anzuprobieren. Auf dem Stapel lag allerdings auch schon ein Bustier, den ich mir ausgesucht hatte, um nicht nur Solas alte zu haben.

Eine Stunde später liefen wir mit vollbeladenen Taschen wieder durch die Stadt und liefen in eine Pizzeria unweit des Klamottengeschäfts. Alessia hatte am Wochenende Geburtstag gehabt und lud spontan alle zu einer Pizza ein, die Preise waren dafür echt noch in Ordnung. „Du bist also Trans", Lana bis von ihrer Hawaii-Pizza ab: „Das klingt nach einem langen Weg für dich." Ich nickte: „Aber es ist für mich persönlich auch der richtige Weg, ich merke, dass es mir gut tut, mit Mädchenkleidung." „Das wird schon", Alessia klopfte mir auf die Schulter: „Aber eure Eltern finden das ja irgendwie nicht so geil?" Sola nickte: „Sie hatten doch auch ein Problem damit, als ich ihnen von Jay erzählt habe, also, dass er Trans ist." Jay musste der Transjunge sein, von dem sie erzählt hatte, als ich das mit dem Transsein gegoogelt hatte. Ich warf einen Blick auf mein Handy, eine neue Nachricht von meinen Eltern in der Familiengruppe. Wann seid ihr wieder zuhause? Hatte meine Mutter geschrieben, ich hielt meiner Schwester mein Handy unter die Nase: „Um 18:30 Uhr." Sola nahm mir mein Handy ab und tippte darauf herum: „Allzu lange können wir nicht mehr, lass die Pizzen aufessen und dann unser Zeug aufteilen."

Zuhause wartete schon meine Mutter ungeduldig auf uns: „Da seid ihr ja endlich." Sie nahm uns hektisch die Jacken ab und ließ Sola kaum die Tüte mit unseren Sachen nach oben bringen. „Mama was ist denn überhaupt los", ächzte Sola und trat ihre Schuhe an unserem Schuhregal ab. Meine Mutter sagte nicht wirklich was dazu und führte uns zum Esszimmer, wo mein Vater konzentriert die Zeitung las. Als wir uns setzten legte er sie beiseite: „Wir müssen umziehen", war seine einzige Begrüßung. „Das war doch schon klar", unterbrach Sola ihn: „Ich mein nach dem Sturz von Opa ist das doch sonst unverantwortlich." Meine Mutter legte ihr die Hand auf den Handrücken: „Dass euch das klar ist, war uns auch schon klar, aber jetzt wird es umso dringender. Ich habe vorhin mit eurer Oma telefoniert in meiner Mittagspause, eurem Opa geht es wieder gut, aber er ist heute Nacht fast von einem Auto überfahren worden." „Wie das denn", sprach Sola meine Gedanken aus: „Warum war er mitten in der Nacht auf der Straße?" „Warum er das war weiß kein Mensch", mein Mutter brauchte einen Moment bis weitersprechen konnte: „Als die Autofahrerin ihn angesprochen hat, hat er wohl nur irgendwas von Kröten im Haus erzählt." Sie wischte sich die Tränen aus den Augen: „Es ist schrecklich, natürlich waren nirgends im Haus Kröten. Aber eure Oma war danach komplett mit den Nerven am Ende und niemand hat mehr in der Nacht geschlafen."

Das Ende des Gesprächs war dann, dass meine Eltern schon dabei waren eine neue Schule für Sola und mich zu finden und wollten dann die Ummeldung von Sola und mir auf die neue Schule organisieren. Mein Vater hatte allerdings auch schon mit seiner alten Schule von damals telefoniert, diese wollten allerdings nicht mitten im Schuljahr neue Schüler aufnehmen. Es war für meinen Geschmack zu ruhig im Haus, als ich am Abend aus meinem Zimmer kam. Meine Eltern hatten sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und Sola schrieb sowieso in der Transgruppe seit längerem an einem Text, zur Frage einer Person, die eine Seminararbeit schreiben musste. Als ich zurück in meinem Zimmer war, war Sola dann allerdings doch endlich fertig mit ihrem Text, das was sie schrieb überraschte mich dafür umso mehr:

Als ich im Kindergarten war, habe ich die ganze Zeit mit den Jungen aus meiner Gruppe gespielt, selbst wenn die Erzieher meinten ich soll doch mit den Mädchen in der Puppenecke spielen und so. Ich fand an den Puppen damals irgendwie nie was, Bauklötze und Fußball waren dagegen Liebe auf den ersten Blick. Besonders als meine Schwester @Carlos dann geboren wurde, war ich neidisch auf das, was ich nie bekommen hatte als ich in ihrem Alter gewesen war. Auch wenn sie mittlerweile als Transgender auch in dieser Gruppe ist, weil sie das Gegenteil von mir empfunden hat denke ich. Mittlerweile will ich zwar weniger ein Junge sein, weil ich Dinge an mir, die ich damals eklig fand, zu schätzen gelernt habe, wie zum Beispiel meine langen Haare. Ich habe sie mir damals nie lang wachsen lassen wollen. Aber bestimmte Sachen lösen immer noch eine tiefe Panik und Ekel vor mir selbst, aber insbesondere auch vor der Natur eines Frau seins aus. Das Problem ist einfach, dass meine Eltern, dass damals schon in den Erzählungen von Lehrern und Erziehern abstoßend fanden und nicht wollten, dass ich das auslebe und mit den Jungen in meiner Gruppe und später meiner Klasse spielte. Sie haben es mir regelrecht verweigert, ich weiß nicht, wohin ich mich ohne diese Einsperrung entwickelt hätte, aber dann wüsste ich vielleicht besser wie ich meiner Schwester auf ihrem Weg helfen könnte.

Da war der Text dann auch schon wieder zu Ende und mit jedem Mal, dass Sola das Wort „Schwester" auf mich verwendete wurde es in meinem Herz ein wenig wärmer. Ich fühlte einen gewissen Stolz darauf, dass meine Schwester mich so akzeptierte, wie ich nun einmal war und mich offen als ihre Schwester bezeichnete.

Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt