Der dritte Juni hatte gar nicht früh genug kommen können, den kompletten Freitag zappelte ich schon in der Schule herum. Meine Lehrerin war schon reichlich genervt, als es endlich zum Unterrichtsende klingelte, hielt sie mich sogar zurück, um mit mir nochmal ausgiebig zu schimpfen, dass das Gezappel von mir nicht in Ordnung war. Aber eine schriftliche Ermahnung schrieb sie mir nicht auf, sondern beließ es bei einer mündlichen Ansage so kurz vor den Sommerferien. Meinen Eltern verschwieg ich logischerweise beim Mittagessen die Verwarnung, damit sie nicht nach den Gründen für meine Aufgeregtheit fragten. Dafür erfuhren wir, dass wir nun endlich bald unsere neue Küche eingebaut bekamen, die nicht aus einem Campingherd und alten Regalen bestand.
Meine Mutter löste schließlich das Problem mit den Kosten für die Zugfahrt, indem sie uns einen 50-Euroschein gab, womit wir uns die Niedersachsentickets kaufen sollten. Das andere bestand aus Gutscheinen oder ging auf unser Taschengeld, was wir auch zur Genüge bekamen, vorallem Sola. Sie freute sich auch sehr offensichtlich auf den CSD und den Zoobesuch danach. Wir waren bisher einmal mit meinen Eltern im Zoo Hannover gewesen, da war ich allerdings erst vier Jahre alt gewesen und konnte mich nicht wirklich daran erinnern. Ich war nur auf Fotos mit einem Bob der Baumeister Pullover und vom Wind zerzausten blonden Haaren. Im Hintergrund war ein Eisbär zu sehen der sehr offensichtlich auch echt war.
Meine Mutter brachte uns zum Bahnhof und wartete bis der Zug anhielt und Sola und ich dann einstiegen. Sie winkte zum Abschied als der Zug davonfuhr und wir uns auf die Suche nach Robert und seinen beiden Mitreisenden aus Braunschweig machten. Wir fanden sie schließlich in einem Vierersitz direkt an der Lok, im unteren Teil des Zuges und nicht unter dem Dach wo wir zuerst gesucht hatten. Robert war ein schlaksiger, sympathisch wirkender junger Mann in Solas Alter, seine Begleitung war ein Mädchen, das sich als Lia vorstellte und ein auf den ersten Blick männlich wirkender Typ, der sich dann als nicht-binär vorstellte und Janus hieß.
In Lehrte stieg dann noch Luan in den Zug, bekam aber keinen Platz mehr bei uns, nachdem sich zwei böse dreinblickende Damen auf die Plätze mir und Sola gegenüber gesetzt hatte. Sie sahen auch immer wieder genervt zu Robert, Lia und Janus mit ihren Fahnen und Rucksäcken hinüber. Sola und ich hatten keine Fahnen und Luan wollte mir noch seine zweite Transflagge leihen sobald wir in Hannover waren. Sola hatte zwar vor uns noch ein paar Fahnen einzuschmuggeln, aber ob das wirklich klappte, stand noch in den Sternen. Die Damen hatten eindeutig etwas gegen die Non-Binary Fahne von Janus und die Gay beziehungsweise Lesbian Fahne von Lia und Janus. Lia band sich dann allerdings auch auf dem Weg aus dem Bahnhof ein Trans Flagge um die Hüfte, was bei ihr dezent an einen Rock erinnerte und mit ihrem hellblau-weiß gestreiften T-Shirt fast ein Kleid ergab.
Wir liefen in das Einkaufszentrum am Bahnhof und betraten den Rewe, um noch weiter vorzusorgen für den CSD. Sola und ich hatten zwar jeder eine Flasche Wasser und drei belegte Brote im Rucksack, aber mit Keksen und Chips waren wir dann doch besser ausgerüstet. Sola kaufte dann doch noch zwei Becher und eine Flasche Fanta und wir machten uns auf die Suche nach Toiletten, bevor die Parade losging. Zum ersten Mal fühlte ich mich allerdings auf sicher genug um mit Sola und Lia auf die Damentoilette zu gehen. Mir warf auch ausnahmsweise keiner seltsame Blicke zu, als wir in den Kabinen verschwanden und auch nicht als wir wenig später auch schon wieder auf dem Weg zum Rathausplatz waren. Wir bekamen tatsächlich auch schon direkt von einer Frau Ketten mit verschiedenen Fahnen angeboten. Sola krallte sich auch direkt eine non-binary Fahne als Kette, bevor wir weiter durch die Stände zogen.
36 Euro ließen wir am Stand mit den Fahnen, eine lesbian, eine bi und eine Transflagge waren dafür samt Bändern jetzt unserem Besitz. Ich gab Luan seine zweite Transflagge, der sie daraufhin sich als eine Art Kopftuch umband, was aber nur halb funktionierte, da sie ihm ein wenig zu lang war. Ich band mir währenddessen die lesbian Fahne um die Hüfte und die längere Trans Flagge um die Schultern, was mir einen Superman Anblick gab. Luan machte lachend ein Gruppenselfie mit uns allen und fügte Lia in die Transgruppe ein, die sich gleich mit dem Selfie vorstellte. Ich speicherte das Bild in einem unauffälligen Ordner, dann begann allerdings auch schon die die Aufreihung für die Demonstration. Wir reihten uns weit vorne ein und begannen durch die Straßen zu laufen, wir begegneten auch einem schwulen Paar von denen der eine im Rollstuhl von seinem Freund durch die Straßen schob. Die beiden hatten auch vor ganz bis zum Ende mitzulaufen beziehungsweise mitzurollen. Der Mann im Rollstuhl war gerade Mittwoch aus der Reha entlassen worden, nachdem er sich bei einem Autounfall schwer verletzt hatte.
Die Parade zog sich dann doch echt und dann kam doch die Dysphorie, als mich ein Mann fragte, ob ich ein Junge mit einem seltsamen Haarschnitt war. Daraufhin fauchte Sola allerdings nur: „Wonach siehts denn aus, sie ist ein Mädchen, nichts anderes und das fragt man auch nicht, besonders nicht auf einem CSD." Wir beeilten uns dann von dem Mann wegzukommen und nach dem CSD zu den S-Bahnen zu kommen, nachdem wir uns von der Gruppe verabschiedet hatten. Im Zoo angekommen machten wir uns direkt auf den Weg zum Eisbärengehege und legten die Flaggen in unsere Rucksäcke, um für unsere Eltern ein Foto zu machen, das dem von vor über acht Jahren ähnlich war. Meine Mutter war davon echt begeistert, mein Vater schrieb allerdings einen dämlichen Kommentar, der Sola mehr nervte als mich. „Ihr seid aber hoffentlich nicht den CSD-Gestalten begegnet, die da angeblich diesen komischen Tag feiern."
Sola war kurz davor eine genauso bissige Antwort zurückzuschreiben, ließ es aber dann doch lieber bleiben und steckte das Handy wortlos wieder ein, bevor wir uns wieder auf den Weg durch den Zoo machten. Wir gönnten uns dann doch am Ende ein Abendessen in einem der Restaurants, was fast die Hälfte unseres Restgeldes aufbrauchte, aber es stillte unseren Hunger. Einige Fotos schickte sie noch während des Essens in unseren Hauschat und bekam von meinem Opa eine sehr verwirrte Antwort. Er hielt die Kattas, die ich fotografiert hatte für zwei Zebrafohlen, was nicht zu der Größe der grauen Lemuren passte. Höchstens zu dem gestreiften Schwanz.
Abends holte uns unsere Mutter am Bahnhof ab, die Flaggen hatten wir in Solas großen Rucksack gesteckt und zeigten nur die provisorischen Mitbringsel aus dem Zoo vor, die nicht so wirklich teuer gewesen waren, die meine Mutter sogar uns zurückgab. Mit exakt demselben Kommentar überreichte sie uns auch das Geld zurück insgesamt gerade einmal 12 Euro, die wir einfach halbe-halbe unter uns aufteilten.
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Schatten der Vergangenheit
Teen Fiction,,Warum machst du einen Unterschied zwischen einem Mädchen und einem Jungen?" Klischees sind ein Problem, dass der 12jährige Carlos von einer ganz anderen Seite kennt. Gibt es einen Ausweg? Vorgeschichte zu: Ein Licht in der Dunkelheit Diese Story...