Kapitel 43 Wechsel

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Den Rest des Nachmittags bis zum Abendessen verzog ich mich mit meinem Handy auf mein Zimmer und schaute YouTube. Erst als Herr Müller, einer der wenigen männlichen Betreuer klopfte und mich zum Abendessen rief, weswegen ich dann doch aufstand. In der Küche herrschte immer noch dicke Luft, Mara und Simon starrten sich wütend an, weswegen ich mich möglichst weit von den beiden wegsetzte und mir ein Brot schmierte. „Habt ihr das immer noch nicht geklärt", Herr Müller setzte sich neben mich: „Luan könnte eventuell bald umziehen, dann hättest du Platz Mara." Mara schlug mit ziemlich viel Schwung auf den Tisch: „Und am Ende zieht er doch erst später um und ich sitze noch länger da fest!"

Nach seinem Ausbruch blieb es still am Tisch, eine Weile zumindest, bis Herr Müller das Schweigen brach: „Es tut mir ja auch absolut leid Mara, aber es scheint halt niemand gerade mit dir wechseln zu wollen." Darauf warf Mara ihm einen giftigen Blick zu und starrte auf ihre Teetasse hinab, die immer noch voll war. Ich biss mir auf die Unterlippe und suchte dann Maras Blick: „Ich würde mit dir tauschen, ich habe kein Problem damit umzuziehen. Außerdem ist mein Zimmer jetzt noch nicht so eingerichtet, dass es irgendwie stören würde, von daher ist das nicht so schlimm. Alle am Tisch starrten mich verblüfft und verwirrt an und einige Sekunden lang herrschte Totenstille im Raum, bis Herr Müller die Worte wiederfand: „Bist du dir sicher?"

Als ich nickte sprang Mara auf und rannte um den Tisch herum, um mich zu umarmen: „Danke Carlos! Danke!" „Nicht dafür", ich umarmte ihn etwas unbeholfen zurück: „Aber ich schätze, das muss erst mit der Heimleitung abgesprochen werden oder?" „Ich glaube nicht", Herr Müller kratzte sich am Kopf mit der Halbglatze: „Maras Wunsch steht schon länger im Raum und ich meine, dass wir eigentlich nur noch jemanden suchen, der mit ihm tauscht. Also theoretisch, wenn ich noch einen Sicherheitsanruf gemacht habe, können wir Morgen den Umzug anfangen." Mara stieß einen Jubelschrei aus, während ich einfach nur schweigend dasaß und vor mich hinlächelte. Ich durfte endlich in den Mädchentrakt ohne, dass irgendwer es hinterfragte und etwas in mir entspannte sich in der Sekunde auch ein wenig.

Der nächste Morgen konnte nicht nur für mich früh genug kommen, der Umzug konnte beginnen, die Leitung hatte das okay am letzten Abend noch gegeben. Ich zog direkt im Schlafanzug mein Bett ab und tauschte meinen Schlafanzug gegen ganz normale Kleidung. Meinen dreckigen Bettbezug warf ich in die Wäschetonne im Flur und nach kurzem Überlegen meinen Schlafanzug hinterher. Dann packte ich meine Kleidung in die Reisetasche und meine Schulsachen obendrauf, die Sachen stellte ich in den Hauptflur, der den Mädchen- und Jungstrakt miteinander verband. Dann ging ich den Staubsauger und einen Lappen holen, um mein altes Zimmer gründlich zu putzen. Innerhalb von Minuten war auch der kleinste Krümel verschwunden und die Fensterbank glänzte, nur noch wischen, dann war es perfekt für meinen Nachfolger.

Noch vor dem Mittagessen war der Umzug zu Ende, mein neues Bett war mit einem Harry Potter Bezug bezogen, meine Kleidung war wieder im Schrank und meine Bücher standen im Regal, nach Schul- und privaten Büchern sortiert. Es klopfte leise an meiner Tür und auf mein „herein", trat Mara ein und setzte sich zu mir auf das Bett. „Danke, dass du getauscht hast", worauf ich ihm ein Lächeln schenkte, was er ein wenig zögerlich erwiderte. „Das habe ich gerne getan", ich knetete meine Hände und dabei die Ärmel meines Pullovers zwischen den Händen. Maras Lächeln breitete sich ein wenig aus: „Ist irgendwas, dass du so nervös bist?" „Ach nur das übliche", murmelte ich: „Stress wegen meinen Eltern, die sich immer noch streiten und so."

Ich vermied ihren Blickkontakt, ich wusste genau, dass es nicht daran lag, ich war absolut froh, dass ich umgezogen war, aber nicht bereit darüber zu sprechen. „Sicher", hakte Mara jetzt schlicht nach: „Sieht nämlich nicht so aus." „Hast schon recht", ich bewunderte ihre Beobachtungsgabe: „Aber tatsächlich hat unser Tausch auch zumindest einen positiven psychischen Effekt. Ich bin selber trans- denke ich zumindest, aber halt in die andere Richtung offensichtlich, bin ja leider ein Junge biologisch." Mara umarmte mich wortlos: „Deine Eltern sperren sich aber auch dagegen? Meine Eltern haben mich deswegen fast umgebracht, deswegen kenne ich deine Situation leider schon." Eine Welle der Erinnerungen an Sola durchflutete mich, wie sie am Tag nach meinem unfreiwilligen Outing gestorben war, das Fahrrad, das silberne Auto, das geflohen war.

Mara war wohl echt feinfühlig, er spürte, dass ich mich unwohl fühlte: „Kannst du reiten?" Ich zuckte mit den Schultern: „Ein bisschen, meine Schwester hats mir mal beigebracht, als wir noch jünger waren. Sein Blick wurde weich: „Heute ist der Gruppenausritt wir könnten uns ein Pferd teilen, wenn du möchtest." „Gerne", ich lächelte zu ihr zurück und wir standen von meinem Bett auf, um mich schnell noch für das Reiten einzutragen. „Ihr habt Glück, der vorletzte Platz auf der Liste." Frau Finke war wieder da und lächelte uns an: „Ich habe schon von eurem Umzug heute Mittag gehört, dann ist wohl alles nach euren Vorstellungen gelaufen." „Es war perfekt", gab Mara zurück: „Ich bin froh im Jungstrakt wohnen zu dürfen und ich glaube Carlos ist wirklich nicht sauer."

„Es ist echt schön hier", bemerkte ich an Mara gerichtet, während sie im Schritt einen Apfelschimmel neben mir herritt. Wir wollten zu einem See, an dem ich auch schon oft mit Sola gewesen war, für schwimmen war es noch zu kalt, aber nicht für ein Picknick. Auf dem Rückweg wollten wir dann tauschen und ich saß das erste Mal seit fast fünf Jahren im Sattel. Frau Großbaum und Herr Frankenberg, zwei Betreuer aus einer anderen Gruppe fuhren vorne auf ihren Rädern, mit den Taschen für das Picknick. „Finde ich auch", pflichtete mir Mara bei: „Es ist echt eine schöne Gegend hier, wenn du mich fragst, gut zum Entspannen." Ich nickte zustimmend und wandte meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne, wo jetzt der See schon durch die Bäume blitzte.

Wir setzten uns ein wenig verteilt auf das kiesige Ufer in Kleingruppen und aßen die mitgebrachten Melonen und Würstchen. „Ich kenne ja nur deinen Deadname", sprach Mara mich an und ich zuckte ein wenig zusammen: „Hast du denn auch einen Namen, der dir lieber ist?" „Luna", erwiderte ich und biss mir auf der Unterlippe herum: „Mir gefällt der Name echt gut, seit ich mir darum Gedanken mache." „Klingt doch schön", Mara spielte mit den Kieseln: „Wenn du magst, kann ich dir ein paar von meinen alten Sachen geben." „Das klingt super", ich strahlte sie mehr als nur ein bisschen überbegeistert an: „Wir sind ja noch ungefähr gleich groß." „Dann gebe ich die dir zu Hause", beschloss Mara: „Ich brauche sie eh nicht mehr."


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt