Der Zug von Jason hatte dann doch plötzlich fast eine Viertelstunde Verspätung, die Begründung war ein Schaden eines vorausfahrenden Zuges, der nur noch langsam fahren konnte. Jason schimpfte über WhatsApp darüber und schließlich kam er doch auf dem richtigen Gleis an und rannte uns entgegen. „Na endlich", er umarmte mich heftig: „Das war viel zu lange, dass wir uns zuletzt gesehen haben und hallo Sola." Sola winkte ziemlich vage in seine Richtung: „Hi Jason, schön dich wieder zu sehen, wie läufts in der Schule?" „Lief nie schlechter", Jason grinste ironisch: „Ich bin immerhin in die siebte Klasse versetzt worden, allerdings beim alten Schmidt nicht nach Geschmack." Ich musste lachen, der alte Schmidt war wirklich ein schrecklicher Mann, der alle Schüler in den Wahnsinn trieb.
„Wir vermissen dich übrigens Carlos", meinte Jason während wir durch die Stadt schlenderten: „Ich soll dir von den anderen schöne Grüße ausrichten." „Sag ihnen schöne Grüße zurück", ich blieb stehen: „Wir müssen vielleicht mal eine WhatsApp Gruppe einrichten." „Das sollten wir definitiv", gab Jason mir Recht und bog in eine Seitenstraße ab: „Hast du denn hier schon Freunde gefunden?" „Hab ich", gab ich zurück und suchte ein Bild von Mia, Mira und mir heraus: „Ging sogar erstaunlich schnell und beim Fußball hab ich auch ein paar nette Leute." „Die sehen nett aus", mein bester Freund begutachtete das Bild genau und lächelte: „Vielleicht trifft man sich ja mal." „Bestimmt", gab ich schließlich zurück und umarmte ihn nochmal, dann kam doch wieder die Überlegung, ob ich mich meinem ältesten Freund anvertraute.
Jason und ich kannten uns schon seit der zweiten Klasse, er hatte diese wiederholen müssen, nachdem er gemobbt worden war und seine Noten in den Keller gegangen waren. Seine Familie kam aus Neuseeland und seine Mutter war eine Ureinwohnerin, was ihm ein untypisches Aussehen verlieh. Das brachte ihm nur wieder Mobbingattacken ein, auch wegen seines Akzents, da er die ersten vier Jahre seines Lebens nicht in Deutschland, sondern größtenteils in Neuseeland verbracht hatte. Er sprach dafür fließend Englisch und die Sprache der Maori, das ihm seine Mutter beigebracht hatte, das ganze besser als die meisten Lehrer es je konnten. Die Lehrer hatten ihn aber nie in Schutz genommen, erst auf dem Gymnasium, war er endlich akzeptiert worden. Mit sehr viel Einsatz von der damaligen Klassenlehrerin.
Der Tag verstrich im Flug, schließlich telefonierte Jason noch mit seiner Mutter und konnte sie schließlich endgültig überzeugen, dass er bei mir übernachten durfte. Das Ganze erfolgte in einer heftigen Diskussion in einer Mischung aus Deutsch und Englisch, dass man so gut wie nichts mehr verstand. Aber schließlich lieh ich ihm einen Schlafanzug und wir fuhren gemeinsam nach Hause, Sola hatte daran gedacht, unsere Eltern vorher zu fragen. Sie hatten mit ein wenig zögern zugestimmt und wollten schon das Matratzenlager aufbauen, wofür ich ihnen dankbar war. Der Abend würde sicher noch lang werden, vorallem hatten wir uns noch so viel zu erzählen hatten, über das was passiert war.
Jason wurde von meinem Eltern freudig empfangen und ihm wurde gleich ein Stück Lasagne angeboten. Meine Mutter hatte sie für uns vom Mittagessen für uns aufgehoben und es jetzt auf drei verteilt und Salat gemacht. „Meine Eltern sind bei so einem Seniorentreff", meine Mutter klatschte uns Salat auf die Teller: „Hoffen wir mal, dass nichts passiert." Jason zuckte die Schultern: „Das sind leider alte Menschen, ich habe das bei meinem Großvater jahrelang miterlebt." Er spießte ein Salatblatt auf und sah meine Mutter an: „Ihnen ganz viel Kraft damit Frau Schmitz." „Das wird schon", meine Mutter goss sich Tee ein: „Noch ist es nicht so schlimm, du darfst mich übrigens immer noch duzen Jason." Sie trank einen Schluck aus ihrer Tasse, als das Telefon klingelte und sie mit einem entschuldigenden Blick aus dem Raum eilte.
Wir aßen schweigend zu Ende während meine Mutter im Büro meines Vaters telefonierte, sodass wir nichts mitbekamen. Sie hatte die Tür abgeschlossen und ihre Stimme drang nicht bis zu uns in das Esszimmer. „Lass uns hochgehen", schlug Sola schließlich leise vor: „Da haben wir unsere Ruhe und können uns ablenken." Jason und ich nickten zustimmend, die Länge des Telefonats war besorgniserregend, der Anfang hatte schon nicht gut geklungen. Bis sie weggegangen war, um uns nicht weiter zu stören und um keine Hintergrundgeräusche zu haben. Wir schalteten den Fernseher an und spielten unter Schweigen Mario Kart 8 zu dritt, wobei wir uns fast gegenseitig verprügelten, wenn wir uns abschossen.
Meine Mutter kam wenig später, bleich wie ein Leichnam, die Treppe herauf, sie umklammerte unser Festnetztelefon. „Soll ich kurz rausgehen", wollte Jason sanft wissen und legte mir sanft die Hand auf die Schulter. „Nein bleib da", meine Mutter setzte sich auf Solas Schreibtischstuhl: „Carlos und Sola können glaube ich einen Freund gerade gut gebrauchen." Das klang nicht besonders gut, wenn nicht schon ihre Gesichtsfarbe genug sagte, ihre Hände zitterten. „Ihr wisst doch was ein Schlaganfall ist", meine Mutter putzte sich die Nase und eine Träne rann ihr über die Wange. Sola und ich nickten, während Jason ihr ein Taschentuch reichte, dass noch nicht so nass war: „Wissen wir."
„Meine Mutter also Solas und Carlos Großmutter, hatte einen", die Stimme meine Mutter bebte: „Heute vor einer Stunde. Sie haben sie direkt ins Krankenhaus gebracht, aber es war eine viel zu große Blutung, sie liegt künstlichen Koma auf der Intensivstation. Die bleibenden Schäden sind noch nicht absehbar, aber es kann sein, dass wir sie in ein Pflegeheim geben müssen. Euer Großvater ist nicht in der Lage den Haushalt trotz Haushaltshilfe allein zu führen, das wisst ihr ja. Das könnte dazu führen, dass er noch aggressiver wird, als sowieso schon, dann müssen wir ihn auch in ein Heim geben." „Sie wird sicher wieder", Jason umarmte erst Sola und mich und dann auch vorsichtig meine Mutter. „Ich hoffe es", meine Mutter putzte sich die Nase und warf ihr Taschentuch in Solas Papierkorb: „Es ist gut, dass du hier bist Jason."
Den Rest des Abends verbrachte ich größtenteils mit Jason und Geschichten aus den letzten Monaten. Wir hatten einander viel zu berichten, die letzte Zeit war ereignisreich gewesen und auch sehr lustig. Dann erstellten wir noch eine Gruppe mit meinen ganzen alten Freunden, die sich ebenfalls freuten und mit uns in den Herbstferien eine Übernachtungsparty machen wollten. Da waren wir uns schon ziemlich sicher, wir wollten sie bei Johanna machen wollten, deren Eltern ein großes Haus besaßen. Sie waren Immobilienmakler, soweit ich wusste, denen war sowieso alles egal was ihre Freunde anbetraf. Sie durfte einladen wen sie wollte, solange sie das teure Mobiliar in Ruhe ließen, es war also nicht so schwer und ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen.
Ich freute mich schon auf das Wiedersehen mit meinen Freunden, aber der Gedanke an meine Oma auf der Intensiv Station zerstörte es wieder. Meine Mutter wollte ich damit nicht stören, mein Vater hatte sowieso Nachtschicht und mein Opa schlief schon längst in seinem leeren Schlafzimmer. Jason und ich gingen schließlich auch schlafen, um uns nicht länger Gedanken machen zu müssen.
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Schatten der Vergangenheit
Roman pour Adolescents,,Warum machst du einen Unterschied zwischen einem Mädchen und einem Jungen?" Klischees sind ein Problem, dass der 12jährige Carlos von einer ganz anderen Seite kennt. Gibt es einen Ausweg? Vorgeschichte zu: Ein Licht in der Dunkelheit Diese Story...