Kapitel 56 Einladung

10 1 0
                                    

Der Endokrinologen Termin dauerte allerdings noch eine ganze Weile. Erst Mitte August hatte ich meinen ersten Termin bekommen. Dafür bekam ich aber Ende Juni mein Zeugnis, das mich in die achte Klasse versetzte. Irgendwie hatte ich es trotz des Chaos in meiner Familie irgendwie geschafft glatt mit einem 2,5er Schnitt versetzt zu werden. Zumindest war das mein Wissensstand bevor es zur dritten Stunde des letzten Tages vor den Ferien klingelte. Mia war deutlich aufgeregter als ich, während Mira einfach schon hatte gehen dürfen. Sie konnte ihr Zeugnis sowieso nicht lesen und bekam es digital zugeschickt, so hatte sie 45 Minuten vor uns schon Ferien. Herr Milanow rief uns einzeln nach vorne und sagte ein paar Dinge zu den einzelnen Schülern vor der Klasse.

Mia war natürlich vor mir dran und warf dem Lehrer einen tödlichen Blick zu, bevor der überhaupt etwas sagen konnte. „Du überraschst mich Mia, keine Zickereien mehr im Unterricht und echt gute Noten." Er überreichte ihr mit einem dünnen Lächeln das Zeugnis, sie machte mit ausdruckslosem Gesicht kehrt und setzte sich wieder neben mich. Herr Milanow rief die nächsten auf, bis er bei S ankam und mich schließlich aufrief. „Luna, schön, dass du halbwegs fit bei uns bist." Ich rätselte, worauf er anspielte als ich nach vorne ging. Freitag und Montag hatte ich mit einer leichten Sommergrippe gefehlt. Die Noten hatten aber festgestanden und seit meinem Aufenthalt in Königslutter hatte ich keinen Tag gefehlt, abgesehen von den beiden. Ich nahm ihm mein Zeugnis ab und wartete auf den Kommentar.

„Dafür, dass du so ein psychisch schlimmes Schuljahr hattest, sind deine Noten sehenswert, vorallem in Physik und Englisch. Herzlichen Glückwunsch dazu, auf der Klassenkonferenz haben wir mehrfach darüber gesprochen wie hervorragend du das trotzdem gemacht hast." Er reichte mir das Zeugnis und ich konnte es mir schwarz auf weiß anschauen. Englisch und Physik war beide auf einer eins. Dafür war es aber auch in Kunst und Sport alles andere als gut gelaufen, in beiden Fächern stand ich auf einer vier. Der Rest war ein Feld aus zweien und dreien, die mir aber nicht wirklich wichtig waren. Ich hatte es trotzdem irgendwie geschafft, ganz unten stand es schwarz auf weiß. ‚Laut Konferenzbeschluss am 20.06.2018 versetzt nach Klasse 8'.

Ich ließ mich wieder neben Mia auf meinen Stuhl sinken und begann innerlich zu jubeln. Ich hatte es geschafft, ich war bedingungslos in die achte Klasse versetzt worden. Mia und ich umarmten uns aber erst gegenseitig, als wir den Klassenraum verließen. „Ich habe ein kleines Geschenk für dich", meinte sie als wir in der Aula standen. Sie gab mir einen kleinen Briefumschlag: „Du kannst ihn direkt aufmachen." Vorsichtig riss ich den Verschluss des Briefs auf. Das Erste was ich sah, waren die Worte ‚Luna Sola Schmitz'. Sie war mit Marie die Einzige, die von meinem Namenswunsch wusste. „Nimm den Brief raus", Mia grinste wie ein Honigkuchenpferd. Behutsam zog ich das Babyblaue Briefpapier aus dem Umschlag und entfaltete den Brief, der in eleganter Schrift, mit blauer Tinte beschrieben war.

Liebe Luna,

Wir wissen alle, wie viele massiv schwere Zeiten du in diesem Schuljahr durchmachen musstest. Du hast deine Schwester verloren und deine Mutter. Trotzdem bist du noch da, trotzdem machst du noch weiter. Du zeigst uns, dass du eine Kämpferin bist, dass du das schaffst, was du auch wirklich schaffen möchtest. Das ist an niemandem von uns, der dir diesen Brief schreibt vorbeigegangen. Mia ist quasi eine beste Freundin für dich, das hast du selbst gesagt. Deswegen möchten wir dich einladen, dass du mit uns zusammen nach Hawaii fliegst und dort zehn Tage Urlaub mit uns verbringst. Dies ist bereits mit deiner derzeitigen Wohngruppe und dem Jungendamt abgesprochen. Aber natürlich musst du auch damit einverstanden sein. Deswegen fragen wir dich danach.

Liebe Grüße

Familie Diemann

Mia grinste mich weiter dumm und dämlich an: „Na? Was sagst du? Fliegen wir in einer Woche zusammen in den Urlaub?" „Äh", war das Einzige was ich in dem Moment rausbrachte und Mia führte mich an die frische Luft. „Ich glaube schon", brachte ich dann endlich heraus und Mia grinste noch breiter: „Dann geht's in genau einer Woche vor deiner Wohngruppe schon los." „Ernsthaft jetzt", ich starrte sie an. „Ja klar, steht doch da", Mia deutete auf den Brief, den ich immer noch fest in der Hand umklammert hatte. „Danke", flüsterte ich und drückte sie an mich und sie lächelte mich sanft an: „Nicht dafür Luna." Wir standen noch eine Weile eng umschlungen vor den Fahrradständern, meine Augen liefen schon wieder fast über vor Tränen.

Aber irgendwann machten wir uns auf den Heimweg und verabredeten uns für den nächsten Vormittag am Bahnhof. Wir wollten einen Ausflug nach Braunschweig machen, um vielleicht ein bisschen Kleidung für unseren Hawaiiurlaub zu shoppen und ein paar Bücher für den langen Flug. Geld dafür hatte ich mir tatsächlich schon zusammengespart von meinem Taschengeld und Bekleidung bekam ich sowieso erstattet. Zumindest, wenn es etwas Sinnvolles war, was ich definitiv vorhatte. Vielleicht einen Badeanzug, ein paar T-Shirts und kurze Hosen. Das war definitiv etwas Sinnvolles zumindest meiner Meinung nach. Aber im Moment hatte ich nur ein paar Sachen von Elian, die mir auch noch teilweise zu klein waren. Ich hatte noch einen weiteren Wachstumsschub bekommen und war mittlerweile einen halben Kopf größer als Elian, der nicht mehr wuchs.

„Wir haben schon von der Einladung gehört", Frau Bach gab mir den Brief zurück: „Wir freuen uns für dich. Außerdem finde ich es schön, dass du wegfährst und nicht sechs Wochen hier depressiv in der Ecke hängst." „Ich freue mich auch schon", ich drehte mich zu Julius um, der in dem Moment in das Büro trampelte. „Warte bitte kurz, du siehst doch, dass ich gerade in einem Gespräch bin." Frau Timmerlahn seufzte: „Oder such Frau Bach, Julius, sie müsste oben in der Küche sein." Julius schnaubte und zog ab, wir konnten ihn die Treppe hochtrampeln hören. „Ach so und ich würde morgen mit Mia nach Braunschweig fahren zum Shoppen." Erklärte ich der Gruppenleiterin: „Die Sachen von Elian passen mir ja nicht mehr wirklich, schauen Sie."

Frau Timmerlahn war damit zumindest einverstanden und entließ mich in mein Zimmer. Julius oder Frau Bach traf ich allerdings nicht auf dem Weg in mein Zimmer. Marie war auch nicht da, sie war mit einer Schulfreundin verabredet und war sonst wo unterwegs. Das musste mich auch im Moment gar nicht interessieren, ich hatte auch andere Dinge zu tun. Unter anderem mit Jason und Johanna über WhatsApp schreiben und dann auch noch mit Mia über WhatsApp schreiben. Wir planten, was wir morgen alles ankaufen wollten. Mia war der Meinung, dass ich auch ein paar Tops brauchte und wenn wir es bekamen auch ein paar vernünftige Unterhosen für mich, die mir nicht zu klein waren. Auch wenn ich es hasste, veränderte sich mein Körper immer weiter.

Den Brief von Mias Familie legte ich auf meinen Schreibtisch und ging dann noch einmal mit meinem Zeugnis zu Frau Timmerlahn. Sie musste es noch zum Jugendamt schicken, um nachzuweisen, wie es in meiner Schule lief. Immerhin war ich ja glatt und meiner Meinung nach auch gerechtfertigt versetzt worden. „Sehr gut", Frau Timmerlahn unterschrieb auf meinem Zeugnis: „Ich gratuliere, dass du das so gut geschafft hast trotz deiner schwierigen Situation."


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt