Kapitel 7 Tropfen

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„Was ist passiert?" Der ganze Körper meines Vaters spannte sich an: „Er ist doch nicht etwa die Treppen runter in dem Haus?" „Gott bewahre", meine Mutter seufzte: „Nein das ist er Gott sei Dank nicht, aber er meinte er könne die kaputte Lampe im Flur selbst reparieren, das müsse die Hilfe nicht machen. Dann ist er wie konnte es auch anders sein runtergefallen, auf den Kopf er hat wohl eine schwere Kopfplatzwunde, die genäht werden musste und eine Gehirnerschütterung." „Die Leiter hätte man wohl besser wegpacken müssen", mein Vater seufzte: „Aber das kann deine Mutter ja nicht wissen Marie." „Ich weiß", meine Mutter seufzte: „Nach dem Essen rufe ich sie an, das kann doch so nicht weitergehen."

Als ich später noch in meinem Bett lag und sinnlos auf mein ausgeschaltetes Handy starrte, konnte ich keine wirklich sinnvollen Gedanken fassen. Da war ja auch immer noch die Sache mit dem Umzug, der immer wahrscheinlicher wurde, durch den Sturz meines Opas. Draußen hatte es passend dazu angefangen zu regnen und dicke Tropfen prasselten gegen die geschlossenen Rollläden vor meinem Fenster. Das Wetter passte irgendwie zu meiner Stimmung, ich legte mein Handy auf den Schreibtisch und schaltete mein Licht aus, es war wohl besser schlafen zu gehen. Mein Kopf machte mir den Versuch allerdings nicht wirklich leicht, meine Gedanken kreisten hierhin und dorthin und wollten partout keine Ruhe geben.

Am nächsten Morgen hatte es immer noch nicht aufgehört zu regnen, als ich mich heute ausnahmsweise mit dem Bus auf den Weg zur Schule machte. Ich saß schweigend neben Sola auf einem Platz hinter der zweiten Tür den Gelenkbusses, sie starrte auf ihr Handy und schrieb mit einer ihrer Freundinnen auf WhatsApp. Sie hielt ihr Handy allerdings so, dass ich nicht wirklich sehen konnte was sie schrieben. Irgendwann wurde mir das aus dem Fenster starren doch zu doof und ich zog mein eigenes Handy aus der Hosentasche und ging auf die Transgendergruppe. Dort wurde mal wieder viel geschrieben, diesmal ging es um Geschlechtsangleichende Operationen und offensichtlich auch was die anderen dazu mit ins Krankenhaus genommen hatten. Sola hatte auch ein paar Nachrichten in den Chat geschrieben, aber so wirklich blickte ich da nicht durch. Größtenteils ging es um die Entfernung der weiblichen Brust, was mich nicht so sehr interessierte, ich hatte ja nicht mal eine, wie mir schmerzlich bewusst wurde.

Dienstagmorgen, Mathe nicht unbedingt mein Lieblingsfach, dazu auch noch Geometrie, Berechnung von Figuren, Dreiecke, Trapeze und so weiter. Jason neben mir stöhnte schon beim Anblick der Übungsblätter, die unser Lehrer austeilte: „Das wird doch eh nichts." „Das wird doch schon", ich zog meinen Füller aus meinem Etui: „Das sind doch hauptsächlich ein paar Formeln die wir kennen müssen." Das machte es für Jason natürlich nicht unbedingt besser, der recht sinnlos auf seinem Blatt herumkrickelte und auf dem Ende seines Füllers herumkaute. Irgendwann gab ich es auf zu versuchen Jason mit Mathe zu helfen und konzentrierte mich auf meine eigenen Aufgaben. Heute Nachmittag hatte ich noch Schulbandprobe. Anders als einige andere meiner Mitschüler in der Band war ich nicht in der fünften und sechsten Klasse in einer Orchesterklasse gewesen. Ich hatte mit vier angefangen Klavier zu spielen und mit Acht hatte ich angefangen Klarinette zu spielen. Meine Eltern hatten mich dazu überredet Klavier zu lernen bei einer Freundin von ihnen, für die Klarinette hatte ich mich eigenständig entschieden, da Johanna damit angefangen hatte.

Um Punkt 15:30 Uhr saß ich auf meinem Platz neben Johanna in der Aula, wo wir probten. Sola hatte wie ich auch ursprünglich Klavier spielen gelernt, allerdings war sie dann in die Orchesterklasse gekommen. Sie hatte Querflöte spielen gelernt und war mittlerweile auch an derselben Musikschule wie ich, um ihr Wissen zu vertiefen. Draußen schlug der Regen immer noch gegen die großen Fensterscheiben, der Wind hatte deutlich zugenommen. In der Aula war es schwer miteinander zu sprechen, auch wenn die Instrumente den Krach beim Stimmen um ein Vielfaches übertönten. Wir probten für ein Konzert auf einem Festival nicht weit von der Schule entfernt. Zuhause war niemand gewesen, mein Vater hatte Spätschicht und meine Mutter arbeitete sowieso bis 16 Uhr.

Meine Mutter war auch nicht da, als wir um halb sechs zuhause ankamen, in der Küche lag ein Post-it Zettel: Bin zu einem Notfall gerufen worden in der Praxis, weiß noch nicht, wann ich wiederkomme. Euer Vater kommt um 19:20 Uhr ungefähr. Auf dem Küchentisch standen schon die Zutaten für das Abendessen, aber keine Hinweise was meine Mutter damit kochen wollte. Ich nahm mir ein Glas aus dem Schrank und befüllte es mit dem Orangensaft, der noch neben dem Kühlschrank stand. Mit dem Glas in der Hand wollte ich mich eigentlich gerade in mein Zimmer zurückziehen, als Sola mich zurückhielt: „Warte grad mal, habe eine Idee." Ich blieb stehen und nahm einen Schluck aus meinem Glas: „Was hast du vor?" „Mit dir was verrücktes Morgen machen", Sola lehnte sich an die Kücheninsel: „Du hast doch Morgen auch bis 15:20 Uhr Schule oder?" In meinem Gehirn ratterte es, ich hatte morgen Nachmittag Religion und Musik: „Wenn sich an meinem Stundenplan nichts ändert, dann habe ich Nachmittagsunterricht." „Gut", Sola zog sich auf den Küchentisch: „Ich bin Morgen bis 19 Uhr mit meinen Freundinnen verabredet, wenn wir meinen Eltern verklickern, dass du mitkommst, können wir dir Sachen kaufen, die dir passen und die irgendwo untergebracht werden können." Sie betrachtete mich neugierig, während sich ein warmes Gefühl von meiner Magengegend ausbreitete: „Das ist eine tolle Idee."

So kam es dann auch beim Abendessen, meine Mutter kam vor meinem Vater tatsächlich wieder und ließ uns bis zum Essen in Ruhe. Sola telefonierte mit ihren Freundinnen ich hatte mich dann doch an mein Lernen für Physik und wurde von meiner Mutter erschreckt, die mich zum Abendessen holte. Mein Vater war auch wieder zuhause und saß schon am Tisch, ich stellte mein Glas in die Spülmaschine und setzte mich neben meinen Vater an den Tisch. „Was habt ihr denn heute so schönes gemacht", mein Vater schenkte Sola und mir Tee ein. Während Sola von der Bandprobe und ihren Freundinnen erzählte schmierte ich mir ein Brot und schaufelte mir Salat auf den Teller. „Wir haben vor uns Morgen in der Stadt nach dem Nachmittagsunterricht zu treffen, wir wollten Carlos mitnehmen, damit er nicht alleine zuhause ist." Riss Sola mich aus den Gedanken: „Das ist mit meinen Freundinnen auch schon so abgesprochen, die sind damit einverstanden."

Das restliche Abendessen verlief ruhig und meine Eltern hatten kein Problem damit, dass ich mit Sola zusammen in die Stadt ging. Was sie ihren Freundinnen gesagt hatte, dass ich mitdurfte wusste ich allerdings auch nicht, ich zog mich rasch nach dem Essen zurück und ging dann doch noch einmal in den Chat von Sola.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt