Kapitel 42 Eingewöhnung

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Die Wohngruppe war nicht nur ein schlichter alter Bauernhof, sondern beherbergte auch ein paar Tiere, unter anderem auch einige Pferde die zu einem Reitstall in direkter Nachbarschaft gehörten. Der hatte sie wie ich direkt am zweiten Tag erfuhr dort gegen Miete und Reitmöglichkeiten für die Bewohner untergestellt. Beim Füttern durfte helfen wer mochte, weswegen ich gleich von Mara und einem anderen Mädchen der Gruppe, Calluna eingeladen wurde mitzukommen. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, niemand wusste worüber wir reden sollten. Calluna hatte ich aber auch bisher nicht ein Wort sagen hören, ich schätzte sie auf 15 oder 16, sie kam aus einem anderen Haus mit älteren Bewohnern. „Schön hier was", Mara brach die Stille, als wir den Stall betraten: „Da kann man glatt vergessen was zu Hause war." Calluna nickte zur Bestätigung und ich zuckte mit den Schultern.

Klar zuhause war die letzte Zeit einfach nur ein Albtraum gewesen, eine Hausdurchsuchung, ständige Gerichtsverhandlungen und der ewige Streit mit meiner Mutter. Ich ließ mir von Mara die Schubkarre in die Hand drücken, die sie und Calluna anschließend beluden mit Heu und ein paar Eimern beluden. Wir sprachen nicht viel, auch nicht als wir mit einer zweiten Schubkarre die Boxen ausmisteten und diese auf den großen Misthaufen an der Grenze zwischen dem Reitstall und der Gruppe brachten. Auf der anderen Seite ritten mehrere Mädchen in einer Reihe im Kreis, während eine Frau in der Mitte anscheinend Anweisungen gab. Wir sahen ihnen eine Weile zu, als wir die letzte Fuhre Mist wegbrachten, dann machte sich aber Calluna als erste auf den Weg zurück. Im Stall hatten sich schon ein paar andere daran gemacht frisches Stroh und das Futter zu verteilen, eine nette Aufgabenteilung.

„Wir war die Schule", wollte Frau Timmerlahn von uns wissen, als wir uns mit frischer Kleidung später zum Abendessen setzten. Ich zuckte mit den Schultern: „War ganz okay nichts neues halt, ich habe noch keine Klausur zurück oder so." Ich sah zu Mara die sich mit ihrer Antwort Zeit ließ: „War auch ganz okay", sagte sie schließlich und biss wieder trotzig von ihrem Brot ab. „Sie haben dich doch nicht wieder gemobbt oder", wollte Frau Timmerlahn wissen, aber Mara zuckte nur mit den Schultern und antwortete nicht mehr. Als sie ihr Brot aufgegessen hatte räumte sie ihren Teller und ihr Glas in die Spülmaschine und verschwand dann in ihr Zimmer. Ich widerstand dem Drang ihr hinterherzulaufen und aß schweigend mein Brot auf: „Ich gehe dann auch mal in mein Zimmer."

Das Haus war in einen Jungs- und einen Mädchentrakt unterteilt, ich hatte natürlich für meinen Kopf das Pech im Jungstrakt untergebracht zu sein. Nebenan wohnte ein Junge namens Timon und mir gegenüber Simon, eine herrliche Namenskombination. Der Weg ins Bad war dafür nicht besonders weit, ich tauschte meine Kleidung gegen einen Schlafanzug und nahm meine Badehose mit ins Bad. Eines meiner Handtücher hing schon im Badezimmer an der Tür. Im Bad schlüpfte ich in meine Badehose und schloss die Tür ab, um in Ruhe duschen zu können, auch wenn ich absolut nicht gestört wurde. Unter der Dusche überlegte ich allerdings, ob ich mich nicht vielleicht Frau Timmerlahn anvertrauen sollte. Aber im Moment schreckte ich noch davor zurück, aber das würde nicht mehr allzu lange warten.

Am nächsten Morgen war Samstag, hieß hier wohl allgemeines ausschlafen, nur für mich nicht, ich musste um halb neun schon wieder aufstehen. Das erste Spiel der Rückrunde stand schon wieder an, die einzigen, die schon wach waren, waren Mara und Frau Finke, eine der Betreuerinnen. Letztere hatte den Arm um Maras Schultern gelegt und redete in der Küche auf sie ein, die ein wenig abgetrennt vom Esszimmer war, durch eine halbe Wand. Sie beachteten mich nicht wirklich, als ich mir ein Brot und Aufstrich nahm und mich an den großen Esstisch setzte. Die Diskussion war allerdings nicht wirklich leise, weswegen ich die Hälfte mitbekam: „Ich verstehe dich ja Mara, aber leider haben deine Eltern noch das Sorgerecht für dich." Frau Finke streichelte meiner Mitbewohnerin sanft über den Rücken.

„Das nützt mir doch nichts, wenn ich Probleme habe", Mara schrie jetzt fast, sodass ich heftig zusammenzuckte. Die letzten paar Minuten, hatte ich dem Gespräch einfach keine Beachtung geschenkt und sie fast vergessen, vertieft in mein Handy. „Ich weiß das doch", Frau Finkes Stimme wurde auch ein wenig lauter: „Wir bemühen uns um alles was geht. Psychiatrien, Gerichtstermine, aber das dauert alles leider sehr, sehr lange und wir wissen, wie viel Überwindung dein Outing gekostet hat." Beim Wort Outing hob ich den Kopf, um zu sehen, wie die Betreuerin Mara ein Taschentuch reichte. „Immerhin habe ich endlich den Frisörtermin heute", Mara putzte sich geräuschvoll die Nase: „Aber am besten hätten mich meine Eltern wirklich umgebracht."

Womit sie sich geoutet hatte, ging mir auch während des Aufwärmens nicht aus dem Kopf, aber zumindest wurde heute ein wenig Rücksicht auf mich genommen. Das Spiel war für mich tatsächlich ziemlich spannend, wir waren zweiter in der Tabelle und spielten gegen den ersten Platz. Zur Halbzeit stand es immer noch 0:0 die zweite Halbzeit würde nicht einfach werden, die erste Halbzeit war schon ein wortwörtliches Blutbad gewesen. Sabrina pilgerte die halbe Pause unruhig auf und ab und murmelte irgendetwas vor sich hin ohne sich zu setzen. Sie schien nichts auszusetzen zu haben, außer einer Menge kleinerer Verletzungen und einer schlecht verarzteten Schnittwunde an der Wange. Als wir nach draußen kamen waren die Gegner schon da und auch sie waren augenscheinlich dezimiert im Verhältnis zur ersten Hälfte.

Das Spiel endete mit sehr viel Glück mit einem 1:0 durch einen Sonntagsschuss von Isabella, der knapp unter die Latte ging. Es reichte für einen knappen Vorsprung von zwei Punkten vor unserem Gegner, wir hatten trotzdem zuhause Anlass zum Feiern mit Softdrinks aus unserem Mannschaftslager. Währenddessen kam eine Mannschaftsfahrt für ein Wochenende ins Gespräch, die letzte war schon fast zwei Jahre her, diese sollte noch stattfinden bevor am Sommer alle in eine neue Jungend wechseln würden. Im Gespräch stand ein Schullandheim, etwa eine Stunde Fahrt entfernt, aber das würde noch eine Weile dauern, es war länger von Grundschulen ausgebucht. Aber Anfang Mai würde es wahrscheinlich sogar etwas werden, wenn wir uns jetzt rasch entschieden. Bis zum nächsten Training sollte eine Entscheidung in Form einer Abstimmung fallen.

In der Wohngruppe wartete eine Menge Chaos auf mich, es wurde schon Mittag gegessen, aber Mara hatte nicht mehr lange Haare, sondern Haare von der Länge meiner Haare. „Ich werde nicht umziehen", erklärte Simon gerade lautstark: „Ich tausche ganz sicher nicht für sowas mein Zimmer." „Aber du weißt doch, dass Carlos gerade erst eingezogen ist und Timon ist Autist Veränderungen sind nicht gut", versuchte Frau Finke zu vermitteln. Wie ich im Laufe des Essens erfuhr, war wohl auch Mara trans auch wenn sie keinen neuen Namen hatte bisher und wollte gerne in den Jungstrakt umziehen. Ich wollte mir trotz allem überlegen, ob ich mit ihm tauschte.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt