Kapitel 11 Wanderer

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Am Abend des Karfreitags kamen meine Eltern wieder, von meinem Zimmerfenster aus konnte ich den roten Touran meiner Eltern sehen, der die Auffahrt hinauf in die Garage fuhr. Sola und ich hatten zum Glück auch den letzten Rest Nagellack von meinen Nägeln bekommen und ich trug inzwischen wieder einen normalen gestreiften Pullover und Jeans. Die Tür klickte als ich die Treppe ins Erdgeschoss hinunterflitzte, als erste kam meine Mutter in einer nasse Regenjacke. Mein Vater stützte meine Oma, die sich an ihm festklammerte. Sola kam jetzt ebenfalls die Treppen herunter und wurde direkt von meinem Opa der als letzter ins Haus kam zerquetscht. „Hallo Lara Mausi", Lara? Seit wann hieß meine Schwester Lara, meine Mutter hieß Marie Lara Schmitz, aber doch nicht Sola, sie hatte nicht einmal einen Zweitnamen und sah unserem Vater ähnlicher als unserer Mutter.

Zum Abendessen hatten meine Eltern Wraps vorbereitet noch in der Küche meiner Großeltern. Meine Oma bewunderte meinen Haarschnitt und lobte ihn in Höhen wo er nicht hingehörte, ich saß daneben, nickte ab und zu während ich meine Wraps aß und immer wieder mit Sola Blicke tauschte. Sola hatte sich die Fingernägel lackiert und ein wenig Lidschatten aufgetragen, was zumindest meinem Opa aufgefallen war. Ihm war wenigstens inzwischen eingefallen, dass sie Sola und nicht Lara hieß, allerdings ohne Erklärung wie er auf Lara kam. „Ihr seid so groß geworden", der Blick meiner Oma zuckte zwischen Sola und mir hin und her. Ich zuckte mit den Schultern, ich war seit Weihnachten nicht mehr wirklich gewachsen, Sola wuchs schon seit fast einem Jahr nicht mehr.

Der restliche Abend ging ruhig zu Ende, ich wälzte mich oben unruhig hin und her, unter mir hörte ich noch irgendjemanden rappeln und etwas knallte an die Wand. Ich stand seufzend auf und spähte aus der Tür, mein Vater kam gerade die Treppe hinauf und umarmte mich kurz: „Wolltest du nicht schon schlafen Carlos." Ich nickte: „Bin aber aufgeschreckt durch den Knall eben gerade, was war das?" „Muss unten gewesen sein", mein Vater lies mich wieder los: „Solange da niemand versucht auf eine Leiter zu steigen sollen sie doch, ich glaube das war das eine Bücherregal, das euer Opa unbedingt noch an die Wand schieben wollte. Ich dachte ich hätte es ihm noch austreiben können vorhin, sieht aber schlecht aus."

Am nächsten Morgen wachte ich davon auf, dass mein Gehirn dachte, ich hätte die Glocken verschlafen, die man sonst jeden Samstag um halb zehn ziemlich laut hörte. Dann fiel mir allerdings ein, dass Karsamstag war und die Glocken erst in der Osternacht wieder anfangen würden zu läuten. Heute war nicht wie sonst ein Samstagsgottesdienst um Viertel vor zehn, der nächste war erst um Mitternacht mit Abendmahl. Ich warf einen Blick auf mein Handy, es war noch nicht einmal halb zehn, sondern fünf vor neun. Die Glocken hätte ich also sowieso nicht verschlafen, aber weiterschlafen war auch keine Option, denn unten knallte jetzt die Haustür zu, das hieß wohl mein Vater war vom Bäcker zurück oder ging gerade dorthin. Schlafen war dann wohl eine schlechte Idee, der Bäcker war nur 200 Meter entfernt, das würde so oder so nicht mehr lange dauern bis es Frühstück gab. Ich sammelte meine Sachen auf und warf sie in den Wäschekorb in meinem Bad, dann nahm ich einen etwas ordentlicheren hellblauen Pullover mit Tigershillouette aus meinem Kleiderschrank und die Jeans von meinem Stuhl.

„Wir gehen heute wandern", beschloss meine Mutter mitten beim Frühstück: „Das Wetter ist so schön und außerdem sollen doch meine Kinder auch mal endlich über die 1000 Meter kommen." „Na das ist hier oben in Niedersachsen schwer", meine Oma biss von ihrem Brötchen ab: „Da gibt's nur einen Berg der so hoch ist." Meine Mutter zeigte mit dem Finger auf sie: „Exakt, wobei der nicht in Niedersachsen liegt, aber wir fahren nur anderthalb Stunden dahin und von oben sieht man dadurch, dass alles fast 100 Meter niedriger ist ziemlich viel." Sie belegte ihr Brötchen weiter mit Käse und sprach nicht weiter über ihre Pläne. Sola hatte unter dem Tisch ihr Handy hervorgezogen und googelte unauffällig den Berg den unsere Mutter meinte „Brocken", spuckte die Suchmaschine aus, der Text dazu war unglaublich lang und Sola ließ ihr Handy wieder verschwinden und schmierte sich ihr Brötchen zu Ende.

Um halb zwölf waren wir dann an einem hellgepflasterten Parkplatz im Harz, die Fahrt hatte dann doch nicht so lange gedauert wie meine Mutter behauptet hatte. Auf der Fahrt hatte es allerdings angefangen zu nieseln und auch auf dem Parkplatz tropfte es noch gegen die Autoscheiben. Sola langte nach hinten in den Kofferraum und zog unsere Jacken nach vorne, damit wir nicht auf dem Weg dorthin nassregneten. Kaum waren wir allerdings unterwegs hörte es auch schon wieder auf zu regnen was meinem Vater ein vierstimmiges Seufzen entgegenbrachte. „Lest halt beim nächsten Mal den Wetterbericht selbst", grummelte er: „Man kann nicht auf die Minute genau sagen wann es aufhört zu regnen."

Auf halbem Weg nach oben kamen uns die ersten Wanderer entgegen, bisher waren wir nur überholt worden oder hatten selbst überholt trotz der späten Stunde laut meiner Mutter. Der Nieselregen hatte wieder eingesetzt und die beiden hatten im Gegensatz zu uns Regenschirme. Meine Jacke war ja wenigstens noch Wasserdicht im Gegensatz zu der meines Vaters, der genauso gut im Pullover hätte wandern können. Er fluchte leise immer mal wieder vor sich hin während wir die lange Straße zum Gipfel des Brockens hinaufliefen. Oben angekommen hörte es zwar wieder auf zu regnen, aber meine Jeans war durchnässt und die Jacke meines Vaters tropfte. Wir flüchteten uns in das „Brockenhotel", das unten ein Selbstbedienungsrestaurant hatte.

Beim Essen hatten wir beschlossen, dass mein Vater und Sola, die beide kaum einen trockenen Fetzen am Körper trugen mit der Bahn nach unten fahren würden, während meine Mutter und ich zum Auto liefen. Ob sie sich von irgendwo dann ein Taxi nehmen mussten, hing von unserer Gehgeschwindigkeit ab. Im Moment hatten wir noch vor den Berg hinunterzujoggen, um uns die nächste Regenfronst, die auf dem Anmarsch war noch zu vermeiden. Ich hatte immerhin dafür geeignete Schuhe an, meine Mutter wollte es trotzdem in ihren Wanderstiefeln versuchen. Wir hielt noch auf der Straße unser Tempo gering, da hier am Karsamstag wörtlich die Horden entlang zogen, als wir jedoch die Straße verließen zog meine Mutter das Tempo an und jagte durch die steinige Landschaft den Berg hinunter.

Unten angekommen, hatte mein Vater uns gerade erst geschrieben, dass sie angekommen waren und wir hetzten ins Auto, um schleunigst nach Wernigerode zu kommen. Meine Mutter hielt sich dennoch offenbar an die Tempolimits, da wir an einem Blitzer ungehindert vorbeikamen. In Wernigerode standen Sola und mein Vater unter dem Dach eines Cafés und wärmten sich die Hände an vier Bechern. Kaum saßen sie, überreichte mir Sola ihren zweiten Becher: „Ist Kakao und noch schön warm nach eurem Lauf."


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt