Kapitel 52 Gemeinsamkeit

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Meine Gesundheit besserte sich ein wenig über die Zeit, es war mittlerweile eine Woche vergangen, seit ich eingeliefert worden waren. Ich teilte mir immer noch ein Zimmer mit Julian, dessen Zustand gefühlt immer schlechter wurde, so sehr man es auch mit Gruppentherapien und Einzelgesprächen versuchte. Er wurde mit Antidepressiva vollgestopft, was es nicht einfacher für ihn machte, er hing nur noch in einer Ecke. Es musste eine andere Lösung her laut den Betreuern, die sich noch mehr Sorgen um ihn machten als ich. Aber bisher war kein Grund für seinen stärker werdenden Verfall gefunden worden, vielleicht mussten sie ihn verlegen, ändern konnte ich daran sowieso nichts. Aber er war weder für mich noch für andere oder sich selbst, er schien nur einfach gefühlt an allem die Lust verloren zu haben.

Es war der siebte Abend in der Psychiatrie, ich versuchte gerade die Schulaufgaben zu machen, die mir Mia netterweise geschickt hatte. Zum ersten Mal seit Tagen bewegte sich Julian so wirklich, während ich versuchte die Themen für die Mathearbeit nachzuvollziehen. Eigentlich waren die Themen gar nicht so schwer, aber ich wusste noch nicht wann und wie ich diese schreiben würde. Die Lehrer waren natürlich schon längst informiert, auch wenn mich die Betreuer noch nicht so ganz einschätzen wollten. Julian sah mich die ganze Zeit an und schwieg einfach nur, bis ich ihn zurückanstarrte, immer noch rätselnd, was er von mir wollte. „Was ist los", verlangte ich von ihm zu wissen, und er senkte dann rasch den Blick.

Wir verfielen wieder in Schweigen, Julian blätterte in einem seiner Comics und beachtete mich erstmal nicht mehr. Das sollte mir auch recht sein irgendwo, so kam ich dazu in Ruhe Mathe zu lernen, damit ich die Arbeit schreiben konnte. Dann endlich hatte ich dich Schnauze voll von dem Lernen, der Arbeitstermin war sowieso erst in einer Woche. Bis dahin hatte ich noch genügend Dinge zu tun, die sich nicht so einfach lösen ließen, unter anderem den Beginn der Diagnostik. Wann ich auf die Normalstation verlegt würde, stand noch in den Sternen, aber das konnte ich wohl kaum beeinflussen." Das lag in der Entscheidung der Ärzte die hier für mich zuständig waren, die waren jetzt allerdings auch mit anderen Entscheidungen beschäftigt. Entscheidungen die wichtiger waren als das.

Erst als ich aufstand, immer noch schweigend, weil Julian auch nichts sagte, sagte Julian etwas: „Warte ich komme mit." Ich sah ihn verdutzt an, seit Tagen war er nicht mehr beim Abendessen gewesen und nicht mit mir zu den anderen Essen gegangen. Jetzt folgte er mir wieder schweigend durch die Gängen zu dem Speisesaal, ich wurde allerdings von Frau Juvlenko abgefangen: „Wir müssen mit dir sprechen jetzt." „Okay", verwirrt folgte ich ihr zurück in Richtung des Büros und trat hinter ihr ein, am Schreibtisch saß schon Doktor Schmidt, einer der Oberärzte der Geschlossenen und gab mir rasch die Hand: „Gut, dass du so schnell kommen konntest." Er bot mir einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches an und ich ließ mich vorsichtig darauf sinken.

„Keine Sorge wir entlassen dich nicht aus der Psychiatrie", der Arzt stützte sich auf den Schreibtisch: „Nach allem was wir bisher von dir gesehen haben in den Gruppentherapien, wäre es gut, wenn wir dich hier in Therapie behalten können. Aber wir können dich nicht länger auf der Geschlossenen behalten, wir laufen gerade über vor Anfragen. Du bist die stabilste von allen bisher hier, weswegen wir dich gerne am Sonntag auf die Normale verlegen würden. Bis dahin hast du Zeit dich hier noch ein wenig psychisch zu stabilisieren, es ist ja erst Freitag. Wie läuft es mit den Antidepressiva bei dir vom Gefühl her?" „Ganz okay", ich zuckte mit den Schultern: „Ich habe zumindest nicht das Gefühl, dass es mir schadet oder so, es macht es nur ein bisschen besser."

Das Gespräch ging noch eine Weile weiter und ich kam gerade noch rechtzeitig um etwas vom Abendessen abzubekommen. Julian war schon weg, ich setzte mich an einen leeren Tisch mit meinem Brot und überlegte was Julian wohl vorhin von mir gewollt hatte. Es war mir immer noch ein Rätsel, dass sich an diesem Abend auch nicht mehr lösen ließ, Julian war nicht im Zimmer, als ich mich nach dem Essen mit meinem Handy aus dem Büro auf mein Bett fallen ließ. Wahrscheinlich war er wie die meisten Bewohner im Gemeinschaftsraum oder in einem anderen Zimmer. Ich hatte keine Lust auf Gesellschaft im Moment, die Tabletten hatten den Nachteil, dass ich nach dem Ende ihrer Wirkzeit extrem müde war und eigentlich nur schlafen wollte.

Am nächsten Morgen war auch Julian zurück, seine Rückkehr am letzten Abend hatte ich nicht mehr mitbekommen. Nur mein Handy hatte ich noch abgegeben und entschied mich mit einem Blick in den Spiegel und auf meine fettigen mittelblonden Haaren, augenblicklich duschen zu gehen. Julian schlief sowieso noch, Fragen stellen zu gestern war also quasi unmöglich, da war duschen mir noch lieber. Ich nahm mir rasch mein Duschzeug und das geliehene Handtuch, bevor ich mich ins Bad zurückzog und die Dusche besetzte. Samstage waren hier auch eindeutig auch entspannter, längere Handyzeiten und keine Therapien. Mia hatte mir auch noch am Vorabend die Sachen aus der Schule geschickt, die ich mir auf ein Blatt geschrieben hatte und nach dem Duschen nacharbeiten wollte. Es waren einige Seiten aus verschiedenen Fächern.

Nach dem Duschen war Julian immerhin wach, dem zerwühlten Bett nach zu urteilen, aber auch schon wieder aus dem Zimmer verschwunden. Wo auch immer er hin war, Frühstück war erst in zwanzig Minuten verriet ein Blick auf den Wecker. Als die Tür aufging zuckte ich zusammen, es war lediglich Julian, der sich auf sein Bett plumpsen ließ und mir den Rücken zuwandte. Er wollte nicht wirklich mit mir reden schien es mir gerade, es war ziemlich eindeutig sogar, auch wenn es mich irgendwo ziemlich nervte. Ich föhnte mir die Haare und lief dann wortlos in Richtung Frühstück wo ich mich zu zwei Mädchen setzte und mich mit denen unterhielt. Es war auch eine gewisse Entspannung mit jemandem normal reden zu können.

Julian sah mich allerdings dann doch an, als ich zurück ins Zimmer kam: „Wie hast du rausgefunden, dass du trans bist?" Verdutzt über seine Frage starrte ich ihn einige Zeit an, ohne irgendetwas zu sagen, ich wusste nicht was man darauf überhaupt sagte. „Naja", ich setzte mich auf mein Bett: „Ich hatte nie das Gefühl ein Junge zu sein und habe mich immer eher mit Mädchen beschäftigt als mit Jungen. Auch wenn ich einen besten Freund jahrelang hatte, also eigentlich immer noch, mit eher weniger Kontakt." Julian schwieg wieder: „Ich glaube das ist genau das, was ich auch empfinde, aber ich habe so gar keine Ahnung." Das war das letzte was er in den nächsten Stunden zu mir sagte und mich damit zum Grübeln brachte.

War das möglich, dass es so einen Zufall gab, dass man zufällig zwei Transmädchen in ein Zimmer sortierte? Sicherlich war das möglich, aber wo lagen die Wahrscheinlichkeiten für so etwas? Doch eher im einstelligen Bereich des Möglichen. Etwas anderes konnte ich mir kaum vorstellen, es war aber definitiv nicht unmöglich so unwahrscheinlich es auch klang. Das erlebte sicherlich nicht jeder, dass so etwas geschah, die Therapeuten und Betreuer hatten das sicherlich auch nicht oft gesehen.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt