Kapitel 44 Name

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Mara hielt sein Versprechen und brachte mir am Abend in einer Sporttasche seine alten Sachen. Die ich direkt in meinen Schrank räumte und ihn dann umarmte, bevor er mich allein ließ. Mein Plan hatte sich den Begebenheiten angepasst, ich wollte in der geschenkten Kleidung zum Abendessen in einer Viertelstunde aufschlagen und auf die Reaktionen warten. Ich untersuchte den genauen Inhalt von Maras Sachen und zog einen kleinen BH, einen Rock und ein Langarmshirt mit einer Blume vorne drauf. Beim Betrachten im Spiegel gefiel es mir durchaus. Der schwarze Rock und das weiße Shirt harmonierten beinahe perfekt, das konnte ja nur gut werden. Meine Spannung stieg, als ich dann doch noch schnell den BH mit Socken befüllte und zur Küche tappte.

Der Einzige, der bisher da war, war Mara, der mich aber triumphierend angrinste bevor er sich auf seinen Platz fallen ließ. Ich grinste zurück: „Hast du eigentlich mal über einen Namen nachgedacht, der zu deiner Identität besser passt?" „Tue ich schon länger", Mara kratzte sich am Kopf und verwuschelte sich die kurzen, dunklen Haare: „Aber bisher hat mir noch nichts so richtig gefallen." Nach und nach trudelte auch der Rest der Bewohner außer Luan ein und zum Schluss mit Timon im Schlepptau noch Frau Finke und eine Betreuerin, die ich bisher nicht kannte, vor dem Essen kassierte ich schon einen genervten Blick von Simon: „Nicht noch so einer." „Das ist nicht in Ordnung Simon", ermahnte Frau Finke ihn sofort: „Das ist ja nicht dein Leben oder?"

Nach dem Essen kam dann doch das wovor ich mir Sorgen machte, Frau Finke stand auf: „Carlos komm bitte mit zu einem Gespräch." Ich nickte und folgte ihr und Frau Bach, der anderen Betreuerin in das Büro, wo ich mich auf das plattgesessene Sofa fallen ließ und die beiden ansah. „Wenn das eine ‚Ich mobbe Mara' Aktion ist will ich, dass du das sofort ausziehst", fuhr mich Frau Finke an." „Ist es nicht", ich setzte mich ein wenig aufrechter hin: „Das ist mein Ernst, die Kleidung habe ich sogar von Mara, Sie können sie ja fragen." Frau Bach stand auf und lief davon, vermutlich um Mara fragen zu gehen, während Frau Finke mich mit ihren strengen Blicken durchbohrte und mich keine Sekunde aus den Augen ließ.

„Sie sagt die Wahrheit", Frau Bach ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen: „Hat mir Mara sehr deutlich gesagt." „Dann ist ja gut", Frau Finke starrte wieder auf ihren PC-Bildschirm: „Dein Vater hat auch irgendwas davon erwähnt. Aber eher als hirnlosen Schwachsinn und eine Phase, läge wohl angeblich am Tod deiner Schwester." „Das war der Grund für den Tod meiner Schwester", fauchte ich sie an: „Ich habe mich schon immer nicht wie ein Junge gefühlt! Sie hat mir damit geholfen, dass ich mich nicht aus Verzweiflung umbringe oder so, mein Vater kennt nur sowas nicht und hat was gegen Transpersonen." „Ist ja schon gut", Frau Finke sah mich beunruhigt an: „Wir können das in Ruhe bereden, wie wir dir da helfen können."

Der Beschluss war am Ende, dass Frau Bach mit Frau Timmerlahn der Gruppenleitung sprechen wollte, die Erfahrung damit hatte. Ich zog mir in meinem Zimmer meinen Schlafanzug an, zog das Rollo zu und rollte mich unter der Decke zusammen. Es war zwar erst kurz nach acht, aber ich hatte keine Lust mehr, mich zu bewegen, mein Handyladekabel lag sowieso neben meinem Bett. In der Gruppe wurde es so langsam ruhig, es waren immerhin Jugendliche zwischen neun und vierzehn Jahren in der Gruppe. Die anderen drei Mädchen hießen Jolina, Mareike und Tina. Tina war gerade erst vor zwei Wochen neun geworden und lebte schon seit fast vier Jahren in Wohngruppen und Pflegefamilien. Mara war in etwa zwei Monate älter als ich und im Moment die Älteste.

Am nächsten Morgen konnte ich mit Freude feststellen, dass die ersten beiden Stunden entfielen. Ich sagte kurz im Büro Bescheid und legte mich wieder schlafen. Ich konnte fast zwei Stunden weiterschlafen, bis ich wieder aufstehen musste, um zur dritten Stunde zu fahren. Schlaf war allerdings schwierig, denn gegen sieben gingen die Probleme los. Tina wurde geweckt und zum Schulbus gebracht, irgendjemand stritt laut, dass er nicht zur Schule wollte und mittendrin, stritt sich die Nachtwache mit noch irgendjemandem. Schlafen war so unmöglich, ich zog mich deswegen an, ein schwarzen Hoodie mit Star Wars Logo und eine normale blaue Jeans. In der Küche nahm ich mir Müsli zum Frühstück und sah zu, wie Frau Finke die anderen aus dem Haus scheuchte und sich wieder in ihr Büro verzog.

Um kurz nach neun machte ich mich dann auch auf den Weg zur Schule, der Weg war durch meinen neuen Wohnort etwas länger geworden. Mia und Mira warteten schon an unserem Stammplatz am Ende des Flurs, wo wir wie immer auf den Lehrer warteten. Dritte Stunde war gleich erst einmal Deutsch, nicht unbedingt mein Lieblingsfach, das Thema machte das nicht unbedingt besser. Ich erzählte Mia und Mira im Flüsterton von den neusten Erkenntnissen vom Wochenende und Mia grinste wie ein Honigkuchenpferd, als ich ihr von meinem Zimmer erzählte. „Das läuft ja quasi perfekt für dich kaum, dass du nicht mehr bei deinem Vater bist." Ich nickte auch grinsend und sah dann zum Lehrer, der den Klassenraum aufschloss und uns hineinließ: „Na dann auf geht's los."

Deutsch zog sich wie Kaugummi, wir redeten über die Lektüre die wir gerade lasen, es war Todlangweilig. Der Lehrer laberte und laberte und laberte, ein Frontalunterricht sondergleichen, was keinen Sinn, bei dem Thema ergab. Mia war fast eingeschlafen und Mira spielte irgendein Spiel auf ihrem Laptop, statt richtig zuzuhören, was aber auch extrem schwer war. Immerhin mussten wir gerade nicht draußen sein, es schüttete in Strömen und sollte wohl auch nicht mehr aufhören heute. Irgendwann erlöste uns aber die Pausenklingel mit einem schrillen Scheppern vom Leid und ich flüchtete mit Mia und Mira in die Pausenhalle. „Man war das dumm", Mia ließ sich halb im Schlaf auf eine Bank fallen: „Ich habe aber echt gut auf dem Roman geschlafen dafür, dass der so ranzig ist."

Ein Block Französisch wartete allerdings noch auf mich, Mira hatte allerdings Latein und Mia Spanisch, weswegen ich auf mich allein gestellt war. Der Lehrer war allerdings auch deutlich angenehmer und hatte einen anständigen Humor, der nicht die Schüler in die Verzweiflung trieb. „Carlos a du un frère ou une soeur?" der Lehrer riss mich aus meinen Gedanken und ich hob den Blick und sah ihn an: „Non, je n'ai pas un frère ou une soeur." Der Lehrer gab sich damit dann zufrieden und wandte sich Jannis, meinem Sitznachbarn zu. Ich hatte nicht vor ihm und der Klasse zu erzählen, dass meine Schwester gestorben war, die die es wussten waren hier nicht im Kurs. Sie dachten, dass ich wohl krank gewesen war am Tag nach Solas Tod.


Schatten der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt