„April?", murmelte Jonathan hinter mir. „Hast du's?"
Ich ergriff den Erlenmeyerkolben, den ich nun nicht mehr brauchte. „Sie war erst sechs Jahre alt, als sie gestorben ist." Unwirsch schaute ich über meine Schulter zu ihm. „Komm schon. Nicht einmal du kannst ein sechs Jahre altes Geistermädchen hassen." Ich rappelte mich auf.
„Mein Vater hätte sich nicht so viel Zeit für sie genommen."
Wütend darüber, schon wieder an Viktor gemessen zu werden, wütend über Jonathan und wütend über die allgemeine Ungerechtigkeit der Welt, die einem kleinen Mädchen nicht einmal einen Spielplatzbesuch ermöglichte, stopfte ich den Erlenmeyerkolben in meine Handtasche. „Ich bin nicht dein Vater, okay?! Kannst du bitte aufhören, ständig nur ihn in mir zu sehen? Wir haben zufällig die gleiche Gabe, aber das ist auch schon alles, was wir teilen. Ich. Bin. Nicht. Wie. Er." Zornig blitzte ich ihn an. „Besteht die Chance, dass du das irgendwann in deinem Leben noch begreifst?!"
Die bizarren Schatten, die unsere Taschenlampen entstehen ließen, verformten sich. Anstatt reglos auf dem Boden und in den Ecken des Raumes zu liegen, schlängelten sie sich auf mich zu. Aus einem von ihnen wuchs ein dreidimensionaler Wolfskopf hervor, der schlagartig sein Maul aufriss, als er meinen Blick bemerkte.
Quiekend machte ich einen Satz zur Seite. Als ich mein Verhalten eine Sekunde später realisiert, erreichte mein Zorn Siedetemperatur. Ich stampfte auf Jonathan zu und rammte ihm meinen Zeigefinger in die Brust. „Was sollte das? Versuchst du mir Angst einzujagen? Dann lass dir gesagt sein, dass das ein äußerst kindisches Verhalten ist! Einem Studenten nicht ansatzweise würdig!" Fuchsteufelswild hielt ich nach weiteren grotesken Schattenmonstern Ausschau. Ich war mir nicht sicher, ob sie Menschen etwas antun konnten oder nicht, aber in meiner momentanen Laune war es mir beinahe egal.
Jonathan legte seine Hände an meine Wangen und drehte mein Gesicht zu sich. „Ich weiß, dass du außer seiner Gabe nichts von ihm in dir hast."
„N-n-na bitte", stotterte ich, abgelenkt von seinen warmen Händen auf meinen Wangen. „Darf ich fragen, wie du zu dieser verspäteten Erkenntnis kommst?"
„Er hätte sich nicht für den Großvater dieses Geistermädchens interessiert. Er wäre ihr niemals begegnet, als wenn sie noch ein lebender Mensch mit Gefühlen wäre." Er trug einen abwesenden Gesichtsausdruck zur Schau, als wenn er ganz in Erinnerungen versunken wäre. Wir standen so nah voreinander, dass ich seinen Atem an meiner Stirn fühlen konnte. Wie ein paralysiertes Reh starrte ich ihm in die Augen. Bislang war mir nie aufgefallen, dass sich ein dunkelgrüner Strahlenkranz um seine Pupillen legte.
„Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht mit ihm auf eine Stufe stellen sollen." Er beugte sich vor und drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz.
Ich wollte triumphierend schnauben. So etwas sagen wie ‚schön, dass du es endlich einsiehst.' Stattdessen kam nur ein „G-genau" über meine Lippen.
Hatte er das wirklich gerade getan? Hatte er mich geküsst? Gut, es war ein Kuss wie für eine kleine Schwester gewesen, aber Jonathan und ich waren nicht verwandt. Warum sollte er mich also küssen?
Oh mein Gott. Was hatte das zu bedeuten? Ich musste es sofort analysieren. Versteckte sich eine tiefere Bedeutung dahinter? Wollte er mir damit irgendetwas mitteilen? Oder war es nur ein Ausdruck seiner Entschuldigung gewesen? Verteilten Jungs Haarküsse, wenn ihnen etwas leid tat?
Während die Gedanken in meinem Kopf hin und her rasten, schaute ich Jonathan stumm an. Er blinzelte, als wenn er aus irgendeinem Grund plötzlich verwirrt wäre. Seine Finger lagen immer noch an meinen Wangen. Ein schönes Gefühl eigentlich. Ich kam mir auf diese Weise bedeutungsvoll für ihn vor.
Das Haus um mich herum verlor sich im Nirgendwo. Elizabeths traurige Geschichte trat beiseite. Da waren nur noch ich und ein verwirrter, reglos dastehender Jonathan.
Ich legte meine erhobene Hand an seine Brust, weil ich ehrlich gesagt nicht wusste, was ich sonst damit tun sollte. Weggehen würde ich jedenfalls auf keinen Fall. Ich würde schön hier stehen bleiben, bis...
Jonathan beugte sich vor und küsste mich. Also richtig. Auf den Mund. Ohne Vorwarnung.
Ich verflüssigte mich zu einer Pfütze aus purem Staunen.
Was...?
Warum...?
Wie konnte er das tun? Hatten wir nicht gerade noch...
Jonathans lange Finger schoben sich in meine Haare, was mich kurz den Faden verlieren ließ. Seine Lippen glitten weich über meine.
Wir hatten doch gerade noch gestritten. Wie konnte er mich dann auf einmal küssen? Ein Kuss aufs Haar war etwas ganz anderes als ein Kuss auf den Mund. Warum also...
Er legte seinen freien Arm um meine Taille. Ich schloss meine Augen und lehnte mich ihm entgegen. Seine Finger umfassten sanft meinen Hinterkopf. Mit der Zunge stupste er gegen meine Unterlippe, woraufhin ich instinktiv meinen Mund öffnete. An meiner Wange fühlte ich weiche Haare, die seinem Haarknoten entkommen waren. Ohne nachzudenken, schlang ich ihm meine Arme um den Nacken.
Meine Tasche rutschte von der Schulter. Mit einem hörbaren Rums schlug sie gegen Jonathans Hüfte. Wir zuckten zusammen. Hastig schob er mich von sich.
Atemlos sah ich ihn an. Die dunkelgrünen Strahlenkränze um seine Pupillen schimmerten.
„Mein Vater hätte dieses Mädchen eingefangen und dann vergessen über seine Bemühungen, den Geist meiner Mutter zu finden." Jonathan fuhr herum und stürmte aus dem Haus.
Mit offenem Mund und ausgestreckten Armen blieb ich im dunklen Zimmer zurück.
Was zum Teufel...?
Wie konnte er mich küssen und dann an seine Mutter denken?!
Als ich ihm fünf Minuten später zum Auto folgte, waren meine Knie wieder verhältnismäßig fest. Dafür war ich zutiefst verwirrt. Unruhig glitt ich ins Auto.
Jonathan warf den Motor an und fuhr los. Als ich einen Blick auf sein Profil wagte, war jenes so finster wie eh und je. Okay. Ganz offensichtlich brauchte ich mich gar nicht erst zu bemühen, irgendwelche Worte zu finden. Jonathan gab mir mit jeder Pore seines Körpers zu verstehen, nicht darüber reden zu wollen.
Ich schnallte mich an. Scheiß auf seine Wünsche. Ich musste wissen, was gerade passiert war. „Soll ich unseren Kuss als Kurzschlussreaktion auf die traurige Geschichte des Geistermädchens werten oder hatte er vielleicht noch eine andere Bedeutung?"
„Nein."
Es fühlte sich an, als ob ich zusammenzuckte, aber ich hoffte inbrünstig, es nicht tatsächlich getan zu haben. Er sollte nicht bemerken, wie sehr er mich verletzen konnte. Ein einziges Wort reichte dafür schon aus.
„Gut. Dann hätten wir das ja geklärt." Ich krampfte meine Hände ineinander und starrte aus dem Fenster.
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Spuk am Baumhaus
Novela JuvenilFortsetzung von Spuk im Keller. Über den Umgang mit Geistern: 1.: (Sei auf der Hut.) Das hilft gar nichts. 2.: (Lege, wenn möglich, Schutzweste und Helm an.) Sich an einem sicheren Ort anzuketten, ist noch besser. 3.: (Sei auf der Hut.) Siehe oben. ...