Kapitel 19

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Als ich am nächsten Nachmittag aus der Schule kam, entschied ich mich, mein drängendstes Problem in Angriff zu nehmen: Thomas. Ich hatte ihn vor beinahe drei Monaten beschworen, was bedeutete, dass ich ihn langsam dazu bringen musste, in die Nachwelt überzutreten. Glücklicherweise konnte ich dabei auf meine vielversprechende Recherche vom letzten Sonntag zurückgreifen.

Ich räumte meinen Schreibtisch frei und strich den Zeitungsartikel glatt, den ich am Sonntag ausgedruckt hatte. Es war ein ziemlich unspektakulärer Artikel. Der Titel lautete ‚Siegerin des Vorlesewettbewerbs'. Auf dem darunter abgebildeten Foto grinsten zwei Mädchen und ein Junge in die Kamera. Die Beschreibung des Bildes war schon interessanter: ‚v.l.n.r.: Sara Wolf (12), Dirk Mahler (12), Louisa Andersen (11)'.

Ich drapierte meinen zweiten Zeitungsartikel neben den ersten. ‚Unterwegs zum Landesentscheid der Vorleser'. Dieses Mal zeigte das Foto nicht nur Louisa, sondern auch ihre Mutter Susanne Andersen.

Die Ähnlichkeit zwischen Susanne und Thomas war eindeutig, zumindest für mich. Das gleiche zurückhaltende Lächeln, die gleiche schmale Gesichtsform, das gleiche vernünftige Auftreten.

Thomas hatte mir nicht erzählt, dass er eine Schwester hatte. Von seiner Nichte hatte er ebenfalls nicht gesprochen, obwohl es eine ausnehmend talentierte Nichte war. Sie hatte nicht nur den Vorlesewettbewerb ihrer Schule gewonnen, sondern auch den des gesamten Stadtgebietes. Was schließlich aus dem Landesentscheid geworden war, hatte ich im Internet leider nicht ausmachen können.

Ich hatte mich zu lange auf Marie versteift. Ich hatte aus den Augen verloren, dass ein Mensch meistens nicht nur aus einem einzigen Angehörigen bestand, sondern aus einem ganzen Netz sozialer Bindungen.

Wenn Thomas mir nicht sagte, warum er gestorben war und was ihm dabei Bedenken bereitet hatte, dann würde ich eben seine Schwester danach fragen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen faltete ich die Ausdrucke zusammen und polterte ins Erdgeschoss hinab. „Hey, Mama." Ich streckte meinen Kopf durch die Wohnzimmertür. „Ich treffe mich mit Tabitha zum Deutschlernen. Wann ich zurückkomme, weiß ich noch nicht. Bis dann." Ich huschte zur Garderobe hinüber, war aber nicht schnell genug.

„Große? Komm bitte noch einmal her zu mir."

Resigniert kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. „Ja?" Ich betrachtete sie, wie sie aufrecht an unserem Esstisch saß. Keine Ahnung, worauf sie hinauswollte, aber es konnte nichts Gutes sein.

„Du triffst dich mit Tabitha?"

„Ja, aber nicht einfach nur zum Abhängen, wir wollen produktiv sein."

„Aha." Mamas Blick durchbohrte mich. „Setz dich." Sie schlug das Kochbuch zu, indem sie geblättert hatte.

Oh Oh.

Argwöhnisch nahm ich neben ihr Platz. „Was gibt's denn?"

„Es freut mich, dass du mit Tabitha Deutsch lernen willst."

„Okay?"

„Ich nehme das als Anzeichen dafür, dass du die schulischen Anforderungen nicht gänzlich aus den Augen verloren hast."

„Das habe ich nicht."

Mamas scharfer Blick umfing mich wie ein Käfig, aus dem man nicht entkommen konnte. „Ich hatte in der letzten Zeit ein anderes Gefühl. Du gehst hier ein und aus, bist die Hälfte der Nachmittage nicht mehr zuhause und verschanzt dich am Wochenende in deinem Zimmer oder auf der Schaukel draußen."

„Bitte nicht schon wieder dieses Thema."

„Doch, genau dieses Thema! Es ist schön, dass du selbstständig wirst, aber ich erwarte, dass du trotzdem genug Zeit für deine Hausaufgaben übrig hast."

Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt