Ich streckte meinen Kopf durch die Wohnzimmertür. „Mama, was kann ich mir an Essen aus dem Kühlschrank..." Mit dem Kopf im Türspalt blieb ich wie angewurzelt stehen.
Meine Mutter drehte sich am Bügelbrett zu mir um. „...nehmen?", beendete sie meinen Satz hilfreich.
Ich nickte schwach. Fassungslos starrte ich die Gestalt neben ihr an. Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein. Halluzinierte ich etwa? Hatte mein Wunschdenken meine Vorstellungskraft dermaßen beflügelt, dass ich mir Dinge einbildete, die nicht da waren?
Thomas saß beinebaumelnd auf dem Esstisch neben dem Stapel gebügelter Wäsche. Er hielt seine linke Hand über einen ordentlich zusammengelegten Pullover und versuchte, ihn mittels Gedankenkraft anzuheben. Erfolglos natürlich.
Wo zum Teufel kam er her?!
„Was ist los, Große? Hat es dir die Sprache verschlagen?"
Ich nickte erneut, nicht in der Lage, meinen Blick von Thomas abzuwenden. Was machte er hier?! Er sollte fröhlich durch die Nachwelt wandern!
„Ähm, ja. Mir kam gerade ein Einfall." Ich machte eine vage Geste in Thomas' Richtung. „Bin gleich wieder da." Rückwärts verzog ich mich aus der Küche. Glücklicherweise hatte Thomas verstanden, was ich von ihm wollte und schwebte mir hinterher.
Ich hatte geahnt, dass bei seinem Übergang irgendetwas schief gelaufen war. Dieses unspektakuläre Verschwinden war zu untypisch gewesen.
An der Schaukel in unserem Garten angelangt, warf ich verzweifelt meine Hände in die Luft. „Ich habe dir doch gesagt, dass du in die Nachwelt übertreten sollst! Warum bist du nicht dort?"
„Weil ich keine Möglichkeit dazu hatte", entgegnete er langsam, als wenn er zu einer Vierjährigen spräche. „Ich habe mich wirklich umgesehen, aber da war nichts, das ich als Portal in die Nachwelt hätte nutzen können."
Ich zerrte an meinen Haaren „Aber da hätte irgendetwas sein müssen! Oder hast du mir nicht alles erzählt? Gibt es noch einen anderen Grund, der dich hier hält? Ist es Marie, dieses Luder?"
Irritiert von meiner Wortwahl musterte er mich. „Nein, ich habe dir ganz sicher alles erzählt. So viel ist in meinem Leben nun auch wieder nicht passiert."
„Schau dich noch einmal um", verlangte ich. Da hatte ich gedacht, Thomas' traurigen Übergang bereits hinter mich gebracht zu haben und jetzt stand er mir noch ein zweites Mal bevor! „Deine Brücke befindet sich sicherlich irgendwo. Du musst sie nur finden."
„Da ist nichts, April. Kein Licht, kein Tor. Nichts."
„Aber... Aber wenn du mir alles erzählt hast, muss da ein Portal sein." Nervös marschierte ich vor der Schaukel auf und ab. „Ich habe dir meine Absolution zum Übertreten erteilt. Es gibt nichts mehr, dass dich zurückhält. Es kann nicht sein, dass du trotzdem noch hier bist und zu einem unkontrollierten Geist werden könntest."
Hilflos zuckte Thomas seine Schultern, wobei er einen Schwarm silberner Nebeltropfen um sich herum verteilte. „Ich bin anders als deine übrigen beschworenen Geister. Vielleicht dauert es bei ersten Geistern, bis sich das Portal zeigt."
„Ich weiß nicht. Du bestehst zwar aus besonderer Magie, unterliegst aber sonst den üblichen Regeln der Geisterschaft." Ich krauste unzufrieden meine Nase. „Oder auch nicht. Wie hast du es vorhin geschafft, meinem Befehl zu widerstehen? Bis ich dich eben in der Küche traf, hatte ich gedacht, du wärst fort." Das war kein schöner Gedanke gewesen. Fröstelnd zog ich meine Sweatshirtjacke enger um mich.
„Ich weiß." Angelegentlich strich er eine unsichtbare Staubfluse von seinem Arm. „Ich habe deinen Sog an meinem Körper gespürt, aber ich brauchte einen Moment, um mich zu besinnen, also habe ich mich widersetzt. Ich musste nachdenken. Deswegen bin ich auch zu deiner Mutter zurückgekehrt und nicht zu dir."
Ich stieß ein Schnauben aus, das beleidigter klang, als ich eigentlich war. „Gut zu wissen, dass meine Magie derart wenig Einfluss auf dich hat. Vielleicht unterliegst du doch nicht den üblichen Regeln der Geisterschaft." Besorgt schüttelte ich meinen Kopf. „Trotzdem müsstest du in die Nachwelt übergehen können. Das ist das gängige Ende eines Nachlebens und in dieser Lebensphase befindest du dich, erster Geist hin oder her."
Thomas strich sich nachdenklich über die Nase. „Ich habe keine Ahnung, was die Besonderheiten eines ersten Geists im Detail beinhalten. Ich habe nie von einem gehört. Bis ich dich kennenlernte, wusste ich nur in der Theorie, dass der ersten Beschwörung eines Geisterbeschwörers spezielle Macht innewohnt."
Grübelnd marschierte ich weiter auf und ab, gleichzeitig erleichtert, ihn noch nicht verloren zu haben, und wütend, dass meine Bemühungen nicht ausreichten. „Ich weiß genauso wenig über erste Geister wie du. Du bist der einzige, den ich habe." Ein plötzlicher Einfall ließ mich innehalten. „Jonathan wird es wissen. Sein Vater war ein Geisterbeschwörer und hatte sicherlich ebenfalls einen ersten Geist. Ich frage ihn einfach danach, wenn ich ihn das nächste Mal sehe!"
„Als Viktor seinen ersten Geist erhielt, war Jonathan noch nicht einmal auf der Welt", wandte Thomas ein.
„Na, und? Bestimmt hat Viktor seinem Sohn von ihm erzählt. Ich würde meinem Kind auch von dir erzählen." Ich runzelte meine Stirn. „Moment. Das lässt der Geheimhaltungskodex gar nicht zu. Man darf mit seinen Kindern erst über Magie sprechen, wenn deren eigene magische Veranlagung feststeht, was um deren siebzehnten Geburtstag herum der Fall ist. Zu dem Zeitpunkt war Viktor bei Jonathan bereits tot."
„Das stimmt so nicht ganz." Thomas neigte seinen Kopf. „Üblicherweise ist man bereits ab einer erfolgreich abgelegten Magieprüfung über die magische Veranlagung eines Kindes im Klaren. Erinnere dich an die Prüfung, der Nina dich unterzogen hat, als du zehn warst. Im Gegensatz zu dir hat sich bei Jonathan bestimmt das korrekte Ergebnis gezeigt."
Begeistert klatschte ich in meine Hände. „Also könnte er doch etwas über Viktors ersten Geist wissen. Ach, ich frage ihn einfach danach."
„Schaden kann es nicht", murmelte Thomas, wobei er nicht gerade glücklich wirkte, ausgerechnet mit dem ersten Geist des unbeliebten Viktors verglichen zu werden.
„Vielleicht ergibt sich gleich morgen nach meinem Selbstverteidigungsunterricht die Gelegenheit", meinte ich aufgeregt. „Kommst du mit?"
Thomas zuckte entsetzt zusammen. „Zu Mike, diesem Berserker?"
„Eigentlich ist er ganz nett."
„Ich überleg's mir." Mit einem gequälten Gesichtsausdruck verblasste er.
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Wie froh seid ihr, dass Thomas doch nicht in die Nachwelt übergetreten ist? Ich hätte jedenfalls nicht ohne ihn mit der Geschichte fortfahren wollen :D
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Spuk am Baumhaus
Fiksi RemajaFortsetzung von Spuk im Keller. Über den Umgang mit Geistern: 1.: (Sei auf der Hut.) Das hilft gar nichts. 2.: (Lege, wenn möglich, Schutzweste und Helm an.) Sich an einem sicheren Ort anzuketten, ist noch besser. 3.: (Sei auf der Hut.) Siehe oben. ...