Kapitel 49

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Am nächsten Morgen wachte ich davon auf, dass Nick neben meinem Bett stand.

Er hielt sein Lieblingsritterbuch im Arm. „Geht's dir wieder besser?"

Ich gähnte. „Ein bisschen. Tut mir leid, dass ich dich gestern erschreckt habe."

„Hast du gar nicht. Ich bin ein Mann. Männer kann man nicht erschrecken." Er schob seine Unterlippe vor. „Mama hat gesagt, wir müssen dich heute wie ein rohes Ei behandeln."

Trotz meiner bleiernen Erschöpfung musste ich grinsen. „Dann solltet ihr das besser tun."

„Ich weiß nicht genau, wie man ein rohes Ei behandelt", gestand er.

„Das heißt", Bianca erschien im Türrahmen, „dass man besonders vorsichtig mit ihr ist. Man darf sie nicht vollplappern, nicht schubsen und im ganzen Haus kein Geschrei verbreiten. Vielleicht hätten wir sie nicht mal aufwecken dürfen." Sie schlang ein buntes Haargummi um das Ende ihrer seitlich verlaufenden Flechtfrisur.

Gnädig winkte ich ab. „Doch, das ist schon in Ordnung. Ich habe Hunger."

„Weil du gestern Abend nichts mehr gegessen hast", erinnerte mich meine weise, kleine Schwester. „Wenn du jetzt aufstehst, kannst du mit uns zusammen frühstücken. Im Gegensatz zu dir müssen wir danach allerdings zur Schule." Mit einem schweren Seufzen verschwand sie in ihr Zimmer.

Herrje. Ich konnte ausschlafen, wachte aber trotzdem zu Schulzeiten auf? Mein Leben ging wirklich den Bach runter.

„Wenn ich aus der Schule wiederkomme, kann ich dir eine Geschichte vorlesen." Nick hielt sein Buch hoch. „Oder ist das bei rohen Eiern nicht gut?"

„Doch, das ist gerade richtig." Ich strubbelte ihm liebevoll durch die braunen Haare. „Jetzt zisch aber ab, ich will mich anziehen."

„Okay." Einsichtig zockelte er aus der Tür.

Er hatte nicht einen einzigen Scherz über mich oder meine Stuntkünste losgelassen. Das war ein sehr, sehr schlechtes Zeichen. Seufzend hievte ich mich aus dem Bett.

Bald darauf verschwanden meine Geschwister in die Schule und Mama ließ mich mit großem Gewese allein, um kurz einzukaufen. Sie hatte sich die nächsten beiden Tage extra von der Arbeit freigenommen, um mich zu hüten. Echt toll. Wie ich mich darauf freute, dass sie die ganze Zeit um mich herumglucken würde...

Ich plumpste im Wohnzimmer aufs Sofa. Es ganz für mich allein zu haben, war ein ungewohnter Luxus. Normalerweise tummelten wir uns zu viert darauf.

Als mein Handy einen Ton von sich gab, angelte ich neugierig danach und entriegelte den Bildschirmschoner.

Es war eine WhatsApp-Nachricht von Tabitha. ‚Wieso bist du nicht in der Schule?'

Hastig tippte ich eine Antwort. ‚Bin krank. Habe mir den Fuß verletzt. Tut mir leid, ich hätte dir früher Bescheid geben sollen.'

‚Das hättest du.' Es folgte ein trauriger Smiley. ‚Mit wem soll ich denn jetzt Französisch radebrechen?'

Nur Tabitha konnte das Wort radebrechen verwenden. Existierte dieses Wort überhaupt? Was sollte es bedeuten?

‚Unsere Klasse besteht aus zwanzig Schülern. Da wird sich wohl einer finden lassen, der dir zusagt.'

Kurze Pause, bevor mir eine neue Nachricht angezeigt wurde.

‚Aber bei anderen habe ich immer Angst peinliche Grammatikfehler zu machen. Was hast du überhaupt schon wieder angestellt? Wieso hast du dir den Fuß verletzt?'

‚Bin im Wald über eine Wurzel gestolpert. Bänderdehnung. Nächste Woche bin ich wieder da.'

Die Antwort kam postwendend. ‚NÄCHSTE WOCHE?! Unmöglich. Du musst mich morgen aufbauen. Es ist der letzte Tag vor meinem Date mit Phillip am Samstag!'

Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt