Kapitel 2

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Just in dem Moment, in dem wir unsere Plätze neben Moritz einnahmen, stand Maira im leer gefegten Block der Redner auf. Mit klappernden Absätzen trat sie in die Mitte des Stühlerechtecks. In ihrem schicken, schwarzen Hosenanzug hätte sie genauso gut eine Sitzung von Vertretern des Adelsgeschlechts leiten können.

„Herzlich Willkommen, lieben Mitmagierinnen und Mitmagier! Heute steht uns eine Versammlung mit ganz besonderem Thema bevor: die Bedeutung unseres Geheimhaltungskodexes." Elegant hob sie ihre Hände. „Wir alle nehmen große Bürden auf uns, um unsere Magie geheim zu halten. Wir belügen Freunde. Wir belügen Arbeitskollegen. Wir belügen die Menschen, die uns am nächsten stehen. Warum tun wir das?" Sie sah sich im Raum um, nahm mit jedem Anwesenden Blickkontakt auf. Ihre Ausstrahlung ließ alle mucksmäuschenstill verharren. „Diese Frage wird uns Herr Kopenau heute beantworten. Er wird uns in Erinnerung rufen, warum wir über unsere Magie schweigen und warum unser Schweigen nicht nur uns selbst, sondern besonders auch unsere unmagischen Angehörigen schützt. Bitte hört aufmerksam zu." Maira tauschte mit dem Ligavorsitzenden die Plätze.

Im Stechschritt trat er an das Rednerpult. „Danke, Maira. Deine einleitenden Worte haben bereits den Kern unseres heutigen Themas getroffen. Um die Bedeutung des Geheimhaltungskodexes vollends begreifen zu können, müssen wir uns zuerst mit unserer Vergangenheit befassen. Die Geschichte der deutschen Ligen reicht weit zurück. Die ersten Aufzeichnungen liegen aus Zeiten der Hexenverfolgung während der Frühen Neuzeit vor." Herr Kopenau strich einen reichlich zerknickten Rednerzettel glatt.

Ich beäugte ihn aus der Ferne. Meine Güte, das würde doch nicht derselbe Zettel sein, den er im letzten Jahr benutzt hatte, oder?

„Heute nennen wir uns nicht mehr Hexen und Hexer, wie es damals getan wurde. Diese Worte sind derart negativ geprägt, dass wir entschieden haben, uns stattdessen als Magierinnen und Magier zu bezeichnen. Dieses, manchen vielleicht nebensächlich erscheinende, Detail ist erst der Anfang einer Reihe von Anpassungen, die wir im Laufe der Zeit zu unserem Schutz auf uns nehmen mussten. Schutz. Das ist das Stichwort meiner heutigen Rede. Es geht bei alledem um Schutz." Er löste sich vom Rednerpult, um seinen Blick schweifen zu lassen. Das musste er sich von Maira abgeschaut haben. „Ich möchte an dieser Stelle an das Desaster in Süddeutschland vor zwanzig Jahren erinnern. Dort kursierte plötzlich das Gerücht, Magie würde existieren. Die beim Verteidigungsministerium angesiedelte Task Force ‚Geheimhaltung der Magiebegabungen' konnte den Ursprung ausmachen, jedoch zu spät. Der unglückselige Magier, der seine Gabe offenbart hatte, und die Familienmitglieder, die daran glaubten, befanden sich bereits in der Psychiatrie." Herr Kopenau räusperte sich mit dem angemessenen Maß an Betroffenheit. „Möchten Sie Ihren Angehörigen dasselbe zumuten? Wollen Sie sie in der Psychiatrie besuchen müssen? Wollen Sie selbst die Gefahr eingehen, dort zu landen?"

Ich blinzelte. Diese eindringliche Rede bezeichnete Nina als langweilig?! Herr Kopenau trug zwar mit seiner bekannten monotonen Stimme vor, aber das Bild der Psychiatrie, das er zeichnete, stand sehr lebhaft vor meinen Augen. Ich wollte ganz sicher nicht dorthin verfrachtet werden.

Florian stieß mich überraschend in die Seite. Ich zuckte zusammen, wodurch ich den Faden des Vortrags verlor. „Was?", zischte ich.

Er hatte Mühe, ein Lachen zurückzuhalten. Hastig zog er am Pulloverärmel von Kathie, die an seiner anderen Seite saß. „Ich habe noch nie jemanden derart gefesselt von dieser Rede erlebt! Sie glaubt das Geschwätz mit der Psychiatrie tatsächlich", wisperte er ihr zu.

Ich musterte ihn verärgert. „Stimmt es etwa nicht?"

Kathie beugte sich vor. „Doch", flüsterte sie. „Es endete nur nicht so tragisch, wie Herr Kopenau es immer gerne andeutet. Die Task Force konnte die arme Familie aus der Psychiatrie herausholen. Sie hat den Ärzten weisgemacht, das Holz des Familienhauses hätte Substanzen abgegeben, die zu Wahnvorstellungen führten. Die Familie musste weit wegziehen und die Task Force hat sie enorm unter Druck gesetzt, nie wieder etwas über Magie nach außen dringen zu lassen. Es war kein Spaß, also hör auf zu lachen." Sie klatschte Florian ihren Handrücken gegen die Brust.

Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt