Kapitel 52

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Trotz meiner bemüht ruhigen Einstellung verpatzte ich später beim Selbstverteidigungsunterricht selbst das einfachste Abwehrmanöver.

„Was ist denn heute los mit dir?" Mike trat ratlos von mir zurück. „So unkonzentriert kenne ich dich gar nicht. Ist es dein Fuß? Hast du noch Schmerzen?"

„Nein, nein, damit ist alles in Ordnung." Unruhig bewegte ich meine Schultern. „Tut mir leid, ich bin nur ein bisschen nervös. Ich habe noch... Pläne für den späteren Abend."

Mikes dichte Augenbrauen wanderten nach oben. „Pläne?" Er betonte das Wort, als wenn es sich dabei um etwas Skandalöses handelte.

„Eine Verabredung", konkretisierte ich notgedrungen.

„Nicht zufällig mit einem Ligamitglied?"

Meine Ohren wurden warm. „Das geht dich nichts an", nuschelte ich.

„Ein Ligamitglied, das ich kenne?", bohrte er weiter.

„Das geht dich... Versuchst du mich hier gerade zu verhören oder was?"

„Wo denkst du hin?" Abwehrend hob er seine Hände. „Ich bringe meiner Sparringspartnerin nichts anderes als aufrichtiges Interesse an ihrer Person entgegen."

Argwöhnisch kniff ich meine Augen zusammen. „Sicher?"

„Absolut." Mike bedeutete mir, ein paar Dehnübungen zum Abwärmen auszuführen. „Es handelt sich nicht zufällig um Jonathan?", erkundigte er sich beiläufig.

Die Temperatur meiner Ohren stieg an. Rasch strich ich meine Haare davor. „Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf den?"

„Du bist die Einzige, von der ich weiß, dass sie mehr Zeit als unbedingt nötig mit ihm verbringt. Das bringt einen auf den einen oder anderen Gedanken."

„Aha", machte ich. „Ich könnte mich auch mit jemandem aus meiner Schule treffen, weißt du?"

Mike dehnte seinen rechten Oberschenkel. „Das sagst du jetzt nur, um mich zu ärgern, nicht wahr? Weil ich zu neugierig gewesen bin. Es ist doch Jonathan, oder?"

„Warum ist dir das so wichtig?"

Er zuckte seine massigen Schultern. „Ich mag den Jungen. Finde, er könnte etwas mehr Spaß in seinem Leben vertragen."

„Trotzdem geht es dich nichts an, mit wem ich mich treffe!" In meiner Verlegenheit klang ich so streng, dass ich mich prompt schlecht fühlte. „Tut mir leid, das kam härter rüber als gewollt. Ich bin ein bisschen nervös."

Er ging zu seinem linken Oberschenkel über. „Du brauchst nicht nervös zu sein. Du hättest es deutlich schlimmer als mit Jonathan treffen können."

„Das würden 95 % der Liga anders sehen." Ich verdrehte meine Augen. „Außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich mich mit ihm treffe."

„Du hast es aber auch nicht verneint. Ich finde, ihr wärt ein passendes Paar."

„Das, ähm... ist sicher nett von dir gemeint", stotterte ich.

„Na, geh schon. Heute ist ja doch nichts mehr mit dir anzufangen. Viel Spaß später." Er grinste verschmitzt. „Mit Jonathan."

„Du bist schlimm", konstatierte ich. „Sehr schlimm." Ich stieg von der Judomatte herunter, auf der wir trainiert hatten. „Bis nächste Woche."

„Bis nächste Woche", erwiderte er. „Vielleicht magst du deinen Geist mal wieder mitbringen. Mittlerweile sollte er sich wohl von meinem letzten Missgeschick erholt haben."

„Ich richte es ihm aus. Tschüss, Mike." Mit einem Blick auf die Uhr an der hinteren Wand unseres Übungsraums eilte ich zu den winzigen Umkleidekabinen hinüber. Ich lag gut in der Zeit. Wer hätte das gedacht?

Schnell wühlte ich die Kleidungsstücke aus meiner Tasche, die ich für meine Verabredung vorgesehen hatte. Tatsächlich war es überhaupt nicht nötig gewesen, mir Gedanken über meine Garderobe zu machen. Ich hatte Bianca erzählt, dass ich bei meinem Date am liebsten aussehen würde wie immer, woraufhin sie einen filmstarreifen Ohnmachtsanfall auf dem Wohnzimmertisch hingelegt hatte. Nachdem sie daraus wieder erwacht war, hatte sie mich zu meinem roten Blazer überredet.

Ich schüttelte das Kleidungsstück aus. Es war sicherlich eine gute Wahl. Mit schwarzer Jeans und schwarzem Top machte es etwas her, ohne übertrieben zu wirken.

Ich warf mich in das Outfit, schnappte mir meine Sporttasche und flitzte in die Damenwaschräume des Erdgeschosses. Ein Blick in den Spiegel beruhigte mich. Ich hatte weder rote Flecken im Gesicht noch standen meine Haare ab. Mich herzurichten würde nicht so viel Arbeit bedeuten, wie ich zuvor befürchtet hatte.

Sorgfältig schloss ich die Tür hinter mir ab und machte mich ans Werk.

Pünktlich eine halbe Stunde später richtete ich gerade eine letzte Haarsträhne, als jemand die Türklinke herunterdrückte, aber wegen des umgedrehten Schlüssels daran gehindert wurde, einzutreten. Hastig warf ich meine Utensilien zusammen, während die Dame verwirrt an der Tür rüttelte, bevor ihr schließlich bewusst wurde, warum sich die Tür nicht öffnen ließ.

„Ist da wer?", fragte sie streng. Ich erstarrte, als ich Iris' Stimme erkannte. Sie war eines der Ligamitglieder, die mich nicht mochten. „Öffne gefälligst die Tür. Andere wollen auch auf Toilette gehen."

Mit meiner Tasche in der Hand riss ich die Tür auf.

Bei meinem Anblick verlor Iris' rundes Gesicht jegliche Farbe. Sie warf einen hektischen Blick an mir vorbei ins Bad, bevor sie zurückwich. „Was treibst du drin?", erkundigte sie sich mit bebender Stimme. „Was hast du dort ausgeheckt?"

Meine Schulterpartie spannte sich an. „Gar nichts. Ich war nur auf Toilette und habe meine Haare gerichtet."

„Du lügst", entgegnete Iris wie aus der Pistole geschossen. „Du hast dort drin eine Seance abgehalten, nicht wahr?" Hasserfüllt musterte sie meine Sporttasche. „Welche arme Seele hast du dir einverleibt?"

Ihre Anschuldigungen waren derart abwegig, dass ich gelacht hätte, wenn es nicht so unfair gewesen wäre. „Glaube mir, Iris, ich habe kein Interesse daran, mir irgendjemandes Seele einzuverleiben. Meine eigene reicht mir vollkommen." Ich schob mir den Henkel meiner Tasche über die Schulter und ließ sie einfach stehen.

Angespannt polterte ich in den Keller hinab. In der Regel gelang es mir ganz gut, über die Abneigung einiger Ligamitglieder hinwegzusehen, aber Iris' Zurückweichen war deutlich gewesen. Sie hatte sich nicht einmal getraut, das Bad zu betreten, nur weil ich vorher darin gewesen war...

Es war kein schönes Gefühl, geächtet zu werden, obwohl man nichts getan hatte.

Mühsam ließ ich den Zwischenfall hinter mir und schloss meine Kellertür auf. Ich würde mich jetzt auf schönere Dinge konzentrieren, nämlich mein Date mit Jonathan.

Schlagartig war meine Nervosität wieder da. Seufzend warf ich meine Sporttasche aufs Sofa und zauberte meine kleine Handtasche daraus hervor. Ich würde nur sie mitnehmen und den Rest hier lassen.

Derartig gerüstet atmete ich in der Mitte meines kleinen Zimmers einige Male tief durch, um mich zu beruhigen. „Das wird ein schöner Abend", versicherte ich mir selbst, während ich rasch in meine Winterjacke schlüpfte, weil es heute verteufelt kalt im Keller war. „Jonathan und ich werden uns treffen und gemeinsam etwas essen. Eigentlich eine ganz einfache Aufgabe. Essen tue ich schließlich täglich." Energisch hängte ich mir meine Handtasche um und verließ das Zimmer.


Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt