Kapitel 44

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„So läuft das nicht", murmelte ich schließlich. „Man entscheidet nicht selbst, wie lange man Buße tun muss. In dieser Hinsicht ist der Tod gnädig. Er verleiht das Recht auf Frieden unabhängig von der Art des Vorlebens. Du bist tot, Jochen. Nimm diesen Umstand endlich an und geh in die Nachwelt über. Dort gehörst du hin."

„Aber Miranda..."

„Sie hat nichts mit deinem Eintritt in die Nachwelt zu tun." Eindringlich suchte ich seinen Blick. „Das Recht darauf steht dir seit deinem Tod uneingeschränkt zu. Was in deinem Leben passierte, hat darauf keine Auswirkungen." Ich deutete auf das zerfallene Haus hinter ihm. „Willst du das alles denn nicht endlich hinter dir lassen?"

Erschöpfung zeigte sich plötzlich ganz deutlich in den Fältchen neben seinen Augen. „Doch. Das würde ich gerne. Ich... Es ist so anstrengend, sich tagtäglich vor Augen zu halten, was für ein Monster man ist, aber..."

„Nein", unterbrach ich ihn sanft. „Kein Aber. Du bist gestorben. Damit hast du nicht mehr über dich selbst zu richten. Der Tod hat dir das längst abgenommen. Wechsle in die Nachwelt über. Es wird Zeit für dich."

Jochen schaute mich eine Weile schweigend an, dann fuhr er sich heftig über das Gesicht. „Ich kann nicht. Miranda wohnt seit ihrer Volljährigkeit in einer Pflegeeinrichtung. Verstehst du? Sie ist an dieses Wohnheim gefesselt, wo sie doch immer die Weltmeere bereisen wollte. Ich darf meinen schwachen menschlichen Wünschen nicht nachgeben, wenn ich dafür verantwortlich bin, dass sie ihre eigenen Wünsche nicht erfüllen kann."

Warum waren meine Geister eigentlich immer so schwer zu dem zu überreden, was gut für sie war?! Ich lehnte meinen schmerzenden Schädel gegen die Rinde des Baumstamms. „Wie alt ist Miranda heute?"

„Ende zwanzig." Ein müdes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Sie hat sich verändert, aber in ihrem Inneren ist sie immer noch ein starkes Mädchen. Als ich sie das letzte Mal vor meinen Tod gesehen habe, hatte sie gerade begonnen, zu studieren."

„Wieso auch nicht? Nach dem, was du von ihr erzählst, scheint sie ein kluges Mädchen zu sein."

„Oh ja, das ist sie. Sie hätte Großes vollbringen können als Forscherin auf den Weltmeeren." Seine Stimme erstickte an weiteren Tränen, die seinen Blick verwässerten.

„Das war ein Kindheitstraum", stellte ich klar. „Wer weiß, ob sie den jemals verwirklicht hätte. Du musst sie loslassen, Jochen. Miranda geht vielleicht einen anderen Weg, als du dir für sie erträumt hattest, aber sie geht ihren Weg." Ich umklammerte meine rechte Wade im dem vergeblichen Versuch, die pochenden Schmerzen in meinem Knöchel einzudämmen. „Wetten, dass sie dir schon längst verziehen hat? Du bist der Einzige, der mit dieser Sache nicht abschließen kann."

Jochens Blick glitt an mir vorbei. „Sie hat mir nie offen die Schuld am Unfall gegeben. Manchmal wünschte ich, sie hätte es getan, sie hätte mich angeschrien oder mir Vorwürfe gemacht, aber sie hat mich immer nur still aus ihren anklagenden Augen angesehen."

Nachdenklich neigte ich meinen Kopf. Beinahe konnte ich vor mir sehen, wie Tabitha bei dieser Aussage abwehrend mit ihren Händen wedelte. Wie ich von ihr gelernt hatte, waren subjektive Einschätzungen oft trügerisch.

„Womöglich hat sie dir niemals die Schuld gegeben", meinte ich langsam. „Immerhin war sie diejenige, die das Baumhaus gegen deinen Rat bestiegen hat. Sie trägt selbst mindestens genauso viel Verantwortung für die Tragödie wie du. Vielleicht hat sie dich nur anklagend angesehen, weil du es in deiner Selbstzerfleischung nicht mehr geschafft hast, sie in den Arm zu nehmen. Ihr zu sagen, dass du sie liebst. Ihr zu versichern, dass sie trotzdem einen großartigen Weg vor sich haben kann. Bestimmt war sie auf deiner Beerdigung. Zusammen mit deiner Frau."

Jochen begann zu blinzeln. „Das wäre schön. Ja. Es hätte mich gefreut, wenn die beiden zusammen von mir Abschied genommen hätten."

„Und jetzt ist es Zeit für dich, Abschied von ihnen zu nehmen", riet ich ihm sanft. „Du warst lange genug als Geist hier. Es reicht."

Er schwieg eine lange Weile, bevor er abgekämpft nickte. „Du hast recht. Es ist genug. Ich möchte aufhören, mit einem Hinkelstein auf meiner Seele herumzulaufen. Es ist so anstrengend."

„Dann lass es sein. Die Nachwelt steht dir offen." Trotz meines desolaten Zustands brachte ich irgendwie ein aufmunterndes Lächeln zustande. „Sieh dich um. Kannst du etwas entdecken, das wie ein Portal oder ein Übergang wirkt? Ein Tor vielleicht?

Sein müder Blick huschte über den in zunehmender Dunkelheit daliegenden Garten. „Da ist ein dunkler Tunnel."

„Ein dunkler Tunnel", echote ich fassungslos. „Du stellst dir die Nachwelt ja nicht gerade freundlich vor." Bevor er auf die Idee kommen konnte, darüber eine Diskussion vom Zaun zu brechen, winkte ich hastig ab. „Egal. Ein dunkler Tunnel ist genauso gut wie ein Tor oder ein Regenbogen. Betrete ihn. Es ist okay."

„Ja?"

Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er meine Absolution erbat. „Ja", bekräftigte ich. „Mit deinem Tod hast du dir das Betreten der Nachwelt ohne Wenn und Aber verdient. Dieser Tunnel ist dein Übergang in die Nachwelt. Nutze ihn."

Jochen sah an meiner linken Schulter vorbei ins Nichts. Er sah mitgenommen aus. Sein Nebel war transparenter als sonst. Seine Fäden trudelten müde herab, bevor sie vergingen, anstatt schnurgerade zu Boden zu fallen.

„Habe eine angenehme Reise", gab ich ihm einen Stups in die richtige Richtung.

„Okay." Er atmete tief ein. „Ich mach's."

Überrascht krallte ich meine Hände ineinander. Bitte, bitte, flehte ich tonlos. Bitte, lass es ihn tatsächlich durchziehen.

Eine Weile geschah gar nichts. Jochen starrte ins Leere. Mehrere braune Blätter segelten vom Baum über uns herab. Eine kühle Windbrise strich mir über das Gesicht.

Inbrünstig wünschte ich mir, dass Jochen seinen Tunnel betrat. Wenn er jetzt überginge, würde ich auch dafür sorgen, dass mein Zimmer immer aufgeräumt war. Versprochen.

In der Nähe knallte eine Autotür, was unsere meditative Stille etwas störte. Wachsam schaute ich zu der Minihecke hinüber, die den Garten von der Straße trennte. War das Jonathan? Auf ihn war zwar nicht wirklich Verlass, aber dieses Haus war so verlassen, da konnte einfach niemand drin wohnen. Oder etwa doch?

Über meine plötzliche Sorge, von den Eigentümern des Hauses entdeckt zu werden, verpasste ich beinahe den Moment, in dem Jochen sich auflöste. Zartes silbernes Licht breitete sich um ihn aus. Für eine Millisekunde wirkte er wie ein sanft leuchtender Engel, bevor sich das Glühen zu einer grellen Supernova intensivierte.

Hastig kniff ich meine Augen zusammen. Erst als das durch meine Lider dringende Licht nachließ, schaute ich vorsichtig wieder auf.

Jochen war verschwunden. Der Rasen vor mir war leer. Das Einzige, das noch auf seine Anwesenheit hinwies, waren die platt gedrückten Grashalme.

Mit einem erschöpften Stöhnen rutschte ich den Baumstamm herab, sodass ich eher lag als saß. Ein Wunder, dass ich meinen schmerzenden Körper bislang noch hatte aufrecht halten können. Es fühlte sich an, als wenn meine Knochen jede Sekunde auseinanderfallen würden.

Ich bettete meinen dröhnenden Kopf auf einer aus dem Erdreich hervorwachsenden Wurzel. Erschüttert von Jochens Geschichte betrachtete ich die verrotteten Holzbretter über mir. Durch eines von ihnen war Miranda hindurchgebrochen. Es war furchtbar, was ihr und ihren Eltern zugestoßen war. Mir wollten immer noch keine passenden Worte einfallen, um diese Tragödie zu beschreiben.

Ich legte eine Hand auf mein Herz. „Sollte ich jemals Kinder und einen passenden Baum haben, kommt mir kein Baumhaus in den Garten. Erst recht kein selbst gebautes", schwor ich mir.

Das Baumhaus in den kahlen Ästen des Baumes schien noch mehr in sich zusammenzufallen. Es hatte keine Aussicht darauf, jemals fertiggestellt zu werden. Es würde immer in diesem unbetretbaren Zustand verbleiben, vergeblich darauf hoffend, von einem Vater und dessen neunjähriger Tochter vollendet zu werden.


Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt