Kapitel 28

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„Oh", wiederholte ich. „Das tut mir leid."

„Meine Großeltern sind großartig. Ich bin viel lieber bei ihnen gewesen als hier." In einem erkennbaren Anflug von Schuldbewusstsein senkte er seinen Blick. „Ich war beinahe froh, dass ich ganz bei ihnen leben durfte, nachdem mein Vater gestorben war."

„Wenn hier die ganze Zeit dicke Luft zwischen euch herrschte, ist das absolut verständlich." Ich kuschelte mich an die Sofalehne. „Meine Eltern haben sich vor zwei Jahren getrennt. Ich bin zwar traurig, dass ich meinen Vater deswegen nur noch selten sehe, aber ich bin auch erleichtert, dass ihre ständigen Streitereien endlich ein Ende haben."

„Ich habe kaum noch Erinnerungen daran wie mein Vater war, bevor meine Mutter gestorben ist." Jonathan zupfte eine Fluse von seiner Jeans. „Alle sagen, er wäre ein guter Mensch gewesen, aber ich erinnere mich nur daran, wie er ohne ein Wort zu sagen an mir vorbeilief, um wieder irgendwelche Recherchen zu unternehmen. Er hat mich überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Wichtig war ich ihm schon gar nicht."

„Dafür bist du deinen Großeltern wichtig", erwiderte ich sanft. „Und Emma."

„Ich schaue mal nach der Pizza." Abrupt stand er auf und verschwand in der Küche.

Also das waren wirklich interessante Neuigkeiten. Ich musste daran denken, wie finster Jonathan sich immer in der Liga benahm. Bislang hatte ich gedacht, es hinge damit zusammen, dass man seinen geliebten Vater für den schrecklichen großen Brand verantwortlich machte. Stattdessen wollte er die Fehler seines Vaters nicht ständig vor Augen gehalten bekommen. Er wollte überhaupt nicht an Viktor denken müssen. Er hasste die Bestandsaufnahmen mit denen geprüft wurde, ob er genauso unvertrauenswürdig war.

Während Jonathan weiter in der Küche rumorte, fiel mir auf, dass es uns beiden ziemlich ähnlich erging. Wir wurden beide mit Viktor verglichen, standen seinetwegen beide auf dem Prüfstand.

Ich, weil ich dieselbe Gabe besaß. Jonathan, weil er dasselbe Erbgut besaß.

Wobei ich in diesem Dilemma den Vorteil hatte, Viktor nicht zu kennen. Ich hatte keinen Bezug zu ihm, sodass ich mich emotional distanzieren konnte. Jonathan war Viktors Sohn. So sehr er sich auch bemühte, sämtliche Verbindungen zwischen ihnen zu zerschneiden, es würde ihm niemals ganz gelingen. Nicht nur, weil die Ligamitglieder ihn ständig daran erinnerten, dass er seines Vaters Sohn war, sondern auch, weil er seinen Vater mal geliebt hatte. Vielleicht nur für einen geringen Zeitraum. Vielleicht auch nur in einer Zeit, die so weit zurücklag, dass er sich heute nicht mehr daran erinnerte. Aber wenn er ihm überhaupt keine positiven Gefühle entgegengebracht hätte, würde er nicht die Magie dafür verantwortlich machen, seine Familie zerstört zu haben. Stattdessen würde er den tatsächlich Schuldigen verantwortlich machen: Viktor.

Jonathan unterbrach meinen Gedankengang - fragt mich nicht, woher ich überhaupt noch die Kraft zu solch komplizierten Erkenntnissen genommen hatte -, indem er mit zwei Tellern in der Hand durch die Küchentür trat. „Wollen wir am Esstisch essen? Schaffst du es, aufzustehen?"

„Ich habe nur einen Tacker gegen die Schläfe bekommen. Ich bin nicht invalide." Entgegen meinen Worten rutschte ich sehr vorsichtig vom Sofa. Tatsächlich fühlte sich mein schmerzender Kopf zunehmend vernebelt an.

Ich würde es niemals zugeben, aber sobald ich stand, wurde ich schlagartig so müde, dass ich im Stehen einschlafen könnte. Das musste das nachlassende Adrenalin sein. Auf meinem Weg zum Esstisch fielen mir sogar kurz die Augen zu. Mitten im Laufen. Als erwachsener Person!

Es war eine demütigende Erfahrung.

Jonathan stellte die Teller klirrend auf dem Tisch ab und kam mir mit zwei großen Schritten entgegen. Besorgt umschloss er meinen Oberarm und geleitete mich an den Tisch. „Du bist ganz schön blass, April."

Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt