Kapitel 16

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Jonathan blieb wie angewurzelt stehen, nur wenige Zentimeter von der Geisteressenz entfernt. Dann wich er abrupt an die Wand zurück. „Er ist hier, nicht wahr? Hier im Raum."

„Ja." Vorsichtig zog ich den Erlenmeyerkolben aus meiner Handtasche. „Hallo, Geist." Einen winzigen Moment lang meinte ich, ein kleines Mädchen in dem Nebel erkennen zu können, aber als ich blinzelte, war die Erscheinung wieder verschwunden. Es stieg nur noch konturloser Dampf aus der Bodendiele auf.

Von der Konsistenz eines beschworenen Geistes war dieser Nebelhauch kilometerweit entfernt.

Ich näherte mich der dampfenden Diele. „Hallo", wisperte ich. „Ich würde dir gerne helfen, wenn ich darf."

Ein zartes Gesicht formte sich aus dem Nebel. Große Augen starrten mich erstaunt an. „Du kannst mich sehen?" Die helle Stimme war ähnlich fragil und konturlos wie die Nebelsäule.

„Das kann ich. Ich bin eine Geisterbeschwörerin."

„Weißt du, wo meine Eltern sind?"

Mitleid erfasste mich mit der Wucht eines Vorschlaghammers. „Nein, Kleine. Das weiß ich leider nicht. Hast du einen Namen?"

„Ich bin Elizabeth", wisperte sie.

„Ein hübscher Name. Ich bin April."

„Wer ist das hinter dir?" Ängstlich spähte sie über meine Schulter. „Er hat ziemlich laut geschrien."

„Das ist Jonathan. Ein Freund von mir. Er hat nur geschrien, weil es ihm gerade nicht sonderlich gut geht. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben. Er würde dir genauso gerne helfen wie ich."

„Ich weiß nicht." Aus dem Nebel formte sich eine Hand, an deren Fingernägeln Elizabeth zu knabbern begann. „Ich suche meine Eltern."

„Wo hast du sie denn zuletzt gesehen? War es in diesem Haus?"

„Nein, es war im Krankenhaus. Bevor ich gestorben bin."

Oh Gott. Die Vorstellung, dieses junge Mädchen könnte in einem Krankenhaus gestorben sein, ließ mein Herz bluten. „Kann es sein, dass sie aus diesem Haus ausgezogen sind, nachdem du... gestorben bist?"

„Ich weiß nicht. Ja. Plötzlich waren so viele andere Leute hier. Ich habe sie nicht mehr wiedergefunden."

Ich runzelte meine Stirn. „Viele Leute auf einmal? Gab es eine Party?"

Elizabeth kicherte. Die Dampfsäule, in der sich ihre zarte Erscheinung zeigte, zerfloss für einen kurzen Augenblick. „Nein, keine Party. Sie waren alle hintereinander da."

„Dann haben sie wahrscheinlich nach deinen Eltern in diesem Haus gelebt." Ich dachte nach. „Du hast mit deiner Familie hier gewohnt?"

Das Geistermädchen nickte. „Bis ich gestorben bin."

„Ich glaube, ich verstehe." Langsam ließ ich mich in einen Schneidersitz nieder. „Weißt du, was geschehen sein wird? Deine Eltern waren über deinen Fortgang bestimmt unendlich traurig und wollten nicht mehr in einem Haus wohnen, in dem sie alles an dich erinnerte. Also verkauften sie es an jemand anderen und zogen fort."

„Warum bin ich nicht dort? Bei meinen Eltern?"

Die Frage ließ mein Herz nicht nur bluten, sondern brach es gleich ganz entzwei. „Geister kehren dahin zurück, wo sie als Menschen gelebt haben. In ihr Zuhause. Für dich ist das dieser Ort."

„Oh." Elizabeths Silhouette sah traurig aus. „Das heißt, ich werde meine Eltern nie mehr wiedersehen?"

„Doch, irgendwann wirst du das. Vielleicht nicht in diesem Haus, aber in einer anderen Welt. Ganz bestimmt." Vorsichtig stellte ich meinen Erlenmeyerkolben beiseite. „Weißt du, wie lange du schon hier bist? Als Geist, meine ich?"

Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt