Wie sich bald herausstellte, hatte meine Sorge bezüglich Thomas bislang noch gar nicht ihr Höchstmaß erreicht. Das geschah erst während des Wochenendes, das er nicht wie üblich in meinem Umkreis verbrachte. Nein, er ließ sich weder Freitag noch Samstag blicken. Dabei war ich sogar verletzt! Meine linke Schulter war immer noch ruhig gestellt. Ich hätte erwartet, dass er sich trotz seines ablehnenden Verhaltens wenigstens ab und zu nach meinem Wohlbefinden erkundigte.
Am Sonntag wurde ich unruhig. Wenn ich nicht wüsste, dass er ein unverwüstlicher Geist war, hätte ich befürchtet, ihm wäre irgendetwas zugestoßen. Wo trieb er sich bloß herum? Außer mir konnte ihn niemand sehen. Besuchte er Marie? Wenn sie doch nicht seine Mörderin war, schaute er vielleicht manchmal bei ihr vorbei. Oder er befand sich in diesem Traumland, in das Geister sich zurückziehen konnten. Er hatte einmal erwähnt, dass die Zeit dort anders verging. Wahrscheinlich bemerkte er gar nicht, dass er das komplette Wochenende verpasste.
An meinen Fingernägeln knabbernd lief ich durch mein Zimmer. Es war 19:50 Uhr am Sonntagabend. Draußen war es seit Stunden dunkel. Sonst war Thomas immer um diese Uhrzeit hier. Er behauptete zwar, sich nichts aus dem sonntagabendlichen Fernsehprogramm zu machen, aber irgendwie schlich er sich dann doch immer mit in unser Wohnzimmer.
Was, wenn ihm nun entgegen meiner Erwartungen irgendetwas passiert war? Was wusste ich schon darüber, welche Gefahren Geistern in dieser Welt drohten? Ich befasste mich gerade erst seit knapp drei Monaten mit dieser speziellen Lebensform.
Grübelnd tigerte ich von meinem dunklen Fenster zur Tür und wieder zurück. Ach was. Ich benahm mich albern. Thomas war einfach immer noch eingeschnappt, weil ich ihm in die Nachwelt verhelfen wollte. Und vielleicht hatte er auch recht mit seinem Unmut! Er hatte sich während seines Todes entschieden, hierzubleiben. Wer war ich, ihm diesen Willen zu verwehren?
Andererseits war er ein Geist. Er gehörte nicht länger in diese Welt. Es war etwas Gutes, dass ich ihm helfen wollte, sich daraus zu lösen. In der Nachwelt müsste er sich nicht mehr mit Sorgen oder Zweifeln herumschlagen. Ich wünschte ihm etwas Besseres, als in seiner qualvollen Vergangenheit festzuhängen. War das denn so verwerflich?
„Du kannst jetzt damit aufhören", erklang plötzlich eine ruhige Stimme hinter mir.
Ich stieß ein überraschtes Quieken aus. Hastig wirbelte ich herum.
In meinem Fernsehsessel formte sich Thomas' silberne Gestalt.
„Was habe ich dir über unvermitteltes Auftauchen gesagt?!", fauchte ich. Bedeutungsvoll deutete ich auf das kleine Lämpchen in der Ecke meines Zimmers. „Immer erst nach Flackern der Geisterlampe!"
„Ich dachte, das Anklopfen erübrigt sich, wo du mich herbeigerufen hast."
„Ich habe vielleicht ein, zwei Gedanken an dich verschwendet", korrigierte ich. „Das kann man kaum als Rufen bezeichnen." Behutsam rieb ich meine linke Schulter, die nicht gerade erfreut von meiner vorangegangenen, schnellen Bewegung war.
„Du zerrst seit einer halben Stunde an mir."
„Einer halben Stunde? Du übertreibst. Das waren maximal zehn Minuten."
Thomas hob skeptisch seine Augenbrauen. „Im Traumland verläuft die Zeit anders als hier, aber ich bin mir sicher, dass es mehr als zehn Minuten waren."
„Warst du dort?" Ich setzte mich auf meine Bettkante. „Im Traumland?"
„Wo sollte ich sonst gewesen sein?"
„Keine Ahnung. Vielleicht bei irgendeinem Familienmitglied oder so."
„Nein. Ich war im Traumland."
„Du warst das ganze Wochenende weg! Ich habe mir schon Sorgen gem... Ich meine, ich habe mich gefragt, wo du steckst."
„Manchmal decken sich deine Taten nicht mit deinen Empfindungen", meinte er seufzend. „Einerseits willst du mich loswerden, andererseits vermisst du mich, wenn ich länger fort bin. Du hast dich mir eben so sehr herbeigewünscht, dass ich keine Chance hatte, fern zu bleiben."
„Gut so, immerhin bin ich hier die Geisterbeschwörerin. Dein Körper hat meiner Magie zu gehorchen."
„Nicht in diesem Fall. Ich bin dein erster Geist. Ich unterliege anderen Gesetzen als deine übrigen beschworenen Geister. Mein Körper geht in erster Linie dorthin, wo meine Seele hingeht."
„Und in zweiter Linie, wohin ich es will."
Thomas schmunzelte. Erst bei dem Anblick wurde mir bewusst, dass ich ihn tatsächlich vermisst hatte. Ihn und sein Lächeln und die Art, wie er sich nachdenklich über das abstehende Haarbüschel an seiner Schläfe fuhr.
Ich war echt schräg drauf. Jetzt vermisste ich schon Leute, die gar nicht mehr in der realen Welt existierten.
„Es tut mit leid, dass ich so lange fort war."
„Warum hast du es dann getan? Ist es wegen... dieser Sache?", umschrieb ich unseren Streitpunkt eloquent. „Warst du böse auf mich?"
Thomas wich meinem Blick aus. „Möglicherweise hatte ich gehofft, dir auf diese Weise klar machen zu können, was du an mir hast."
„Das brauchst du mir nicht klar zu machen, indem du verschwindest. Das weiß ich so oder so."
„Aber es ändert deinen Standpunkt nicht", folgerte er tonlos.
Unglücklich stand ich auf und ging vor ihm in die Knie. „Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich habe dich beschworen, womit du bestimmten Regeln unterliegst."
„Der drei-Monats-Regel."
„Unter anderem der drei-Monats-Regel", bestätigte ich. „Wenn ich dich behalten könnte, Thomas, dann würde ich dich behalten." Ich nahm eine seiner Hände in meine freie Rechte, auch wenn ich davon sofort Frostbeulen bekam. „Glaube mir das bitte."
Er nickte langsam. „Ich bin froh, dass Viktor mich nie beschworen hat, sonst hätte ich dich nicht kennenlernen dürfen."
„Soll das ein Kompliment sein?"
„Eines Tages wirst du eine großartige und sehr mächtige Geisterbeschwörerin sein. Ich wünschte nur..."
„Was?"
Mit einem Seufzen drückte er meine Hand. „Ich wünschte, ich könnte dabei sein."
„Vielleicht kannst du das ja. Wer weiß, vielleicht sitzt du in der Nachwelt tatsächlich auf einer Wolke und schaust von dort oben auf uns herab."
„Ich war Wissenschaftler, April. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Erst recht nicht an eines auf Wolken."
„Warum sitzt du dann vor mir? Du bist doch bereits tot."
„Oh." Thomas runzelte die Stirn. „Hm. Das muss ich noch einmal überdenken."
Ich stellte mir plötzlich wieder die Frage, ob er ermordet worden war. „Sag mal... War dein Ableben eigentlich schmerzhaft?"
Sofort zog er seine Hand aus meiner. „Das geht dich nichts an. Versuch gar nicht erst, mehr darüber aus mir herauszubekommen."
„Schon gut." Ich wollte abwehrend meine Hände heben, wurde daran allerdings einseitig von meiner Orthese gehindert. Verdammtes Ding. „Ich hab's verstanden." Umständlich stand ich auf. „Mama sitzt bereits vor dem Fernseher. Gesell dich doch schon einmal zu ihr. Ich komme gleich nach."
Thomas beäugte mich. „Gut", sagte er schließlich. „Mach ich. Aber nur, um dir den besten Sitzplatz freizuhalten. Nicht etwa, weil mir etwas an deiner Mutter läge."
„Natürlich." Ich grinste.
Sein Nebel verschwand aus meinem Fernsehsessel. Sofort schnappte ich mir meinen Laptop. Während unseres Gesprächs war mir ein plötzlicher Einfall gekommen. Es würde mich nur zehn Minuten kosten, dem rasch nachzugehen.
Ich öffnete den Internetbrowser.

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Spuk am Baumhaus
ספרות נוערFortsetzung von Spuk im Keller. Über den Umgang mit Geistern: 1.: (Sei auf der Hut.) Das hilft gar nichts. 2.: (Lege, wenn möglich, Schutzweste und Helm an.) Sich an einem sicheren Ort anzuketten, ist noch besser. 3.: (Sei auf der Hut.) Siehe oben. ...