Kapitel 35

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Am nächsten Nachmittag stieg ich missgelaunt an der Bushaltestelle der Liga aus. Ich freute mich weder auf die Telekineseübung mit Tante Nina noch auf meine anstehende Sitzung mit Jochen. Was sollte ich ihm nach seinem letzten Ausbruch erzählen? Dass sein Verhalten inakzeptabel gewesen war? Dass er endlich mit mir reden sollte?

Diese Phrasen wären nichts Neues. Sie würden keine Veränderung herbeiführen.

Seufzend betastete ich die Stelle an meiner Schläfe, wo der Tacker mich getroffen hatte. Das Violett der Prellung war mittlerweile zu einem unauffälligeren Gelb-Braun abgeklungen.

Ob es Herrn Kopenau auffallen würde, wenn ich heute ausnahmsweise keine Geistersitzung abhalten würde? Hatte ich nicht sowieso Anrecht auf bestimmte Urlaubstage? Es würde mir doch wohl zustehen, mich einen Dienstag lang von einem beschworenen Geist fernzuhalten, um mich von einem Zwischenfall auszukurieren. Immerhin war ich die Geisterbeschwörerin. Ich war diejenige, die sich von den Geistern malträtieren ließ. Niemand sollte mir vorschreiben dürfen, wie oft ich mich innerhalb weniger Tage von einem Geist verprügeln lassen musste.

Entschlossen reckte ich mein Kinn vor. Ja, ich würde es tun. Ich würde heute einfach eine Pause vom Geisterbeschwören einlegen.

Mit gleich erheblich besserer Laune betrat ich die Eingangshalle der Liga und sprang die Stufen ins Obergeschoss hinauf. Wie abgesprochen fand ich meine Tante auf einem der hinteren Kissenplätze im Hexarium.

Zu meinem Glück trainierte sie heute nur mit einem Strauß Luftballons. Das kam mir sehr gelegen. Herabfallende Luftballons waren deutlich angenehmer als herabfallende Hanteln oder Boxsäcke.

„Nina?", unterbrach ich ihre Konzentration. „Bist du so weit?"

„Sekunde, Schätzchen." Sie lächelte abgelenkt, wobei die Luftballons aber beeindruckenderweise unter der Decke schweben blieben. Das wäre mir nicht gelungen, wenn mich jemand während des Telekinesetrainings angesprochen hätte. Mit einem Handzeig orderte sie die schwebenden Luftballons langsam zu Boden.

„Warum macht ihr Magier 1. Klasse das ständig?" Ich imitierte ihre Geste. „Als wenn ihr irgendein anderes Hilfsmittel als euren Geist für Telekinese bräuchtet."

„Ausladende Gesten machen die Angelegenheit eindrucksvoller." Grinsend erhob sie sich von ihrem dicken Kissen, das in ähnlicher Ausfertigung dutzendfach in der riesigen Halle verteilt lag. „Außerdem hilft es uns dabei, unsere Kräfte auf den betroffenen Gegenstand zu richten. Je komplexer der Telekinesegegenstand wird, desto wichtiger ist es, seine Kräfte zu bündeln und ausschließlich auf diese eine Sache zu richten. Es ist mir schon passiert, dass alles im Raum zu schweben begann außer dem anvisierten Sessel." Sie zupfte einen Luftballon aus ihrem Strauß und schickte den Rest in ein Regal an der Rückwand der Halle.

Nachdem sie einen vorbeitrudelnden Zementsack abgewartet hatte, kam sie zu mir herüber in den sicheren Bereich an der Wand der Halle. „Lass uns in einen der Übungsräume im Erdgeschoss gehen. Für eine Magierin dritter Klasse ist es sicherlich einfacher, wenn sie nicht von anderen durch die Luft schwirrenden Gegenständen abgelenkt wird."

Ich nickte resigniert. „Telekinese fällt mir schon bei absoluter Stille schwer genug." Ich ließ mich von ihr aus dem Raum ziehen. Sie hielt den roten Luftballon immer noch in der Hand.

Mich überkam die unerfreuliche Vermutung, dass dies mein heutiger Telekinesegegenstand werden würde. Ein Luftballon war ganz schön groß. Zwar leicht, aber ganz schön groß.

Beunruhigt trottete ich hinter Nina her zum Treppenhaus hinüber. Der größte Gegenstand, mit dem ich bislang trainiert hatte, war ein Eichenblatt gewesen. Dagegen war dieser Luftballon ein Gigant. Man könnte schon sagen ein Elefant im Vergleich zu einer Grille.

Spuk am BaumhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt