Ich richtete meinen Blick wie einen Laserstrahler auf den Erlenmeyerkolben. „Zeig dich, Geist", verlangte ich energisch. „Ich befehle dir, in unsere Welt zu kommen. Verlass deine ursprüngliche Form und nimm den Körper an, den ich dir hiermit kraft meiner Magie verleihe." Während ich sprach, stellte ich mir bildlich vor, wie die Flüssigkeit aus dem Erlenmeyerkolben aufstieg und zu dichtem, silbernem Nebel wurde. „Komm heraus. Lass uns miteinander re..." Ich musste gar nicht weitersprechen.
Die klare Flüssigkeit im Erlenmeyerkolben wurde trüb. Sekunden später schoss sie bogenförmig in die Höhe. In rasender Geschwindigkeit vervielfältigte sich die Masse und setzten sich zu einem vollständigen Körper zusammen, der vor meinem Schreibtisch schwebte. Durch die diffuse Gestalt hindurch konnte ich meine weiße Wand erahnen.
Ich schwankte. Im selben Maße, in dem Geist 3 sich zusammengesetzt hatte, war mir ungefähr eine Tonne an Energie entströmt. Eine Beschwörung erforderte Magie, die ich erstmal bereitstellen musste. „Wow, das ging schnell."
„Übung macht den Meister", flüsterte Thomas.
„Vielleicht ist dieser Geist auch einfach nur offen für Magie", flüsterte ich zurück. Neugierig musterte ich mein neuestes Zauberstück. Es war ein männlicher Geist. Tatsächlich erinnerte er mich ein wenig an meinen Vater. Er war zwar nicht ganz so groß gewachsen, aber seine Statur war ähnlich athletisch. Sein rundliches Gesicht ließ ihn gesund aussehen, wobei ich den Eindruck hatte, dass seine fingerlangen Haare sorgfältig darauf abgestimmt waren, seinen Kopf nicht unproportional erscheinen zu lassen. Wegen der grau-silbernen Farbe des Geisternebels tat ich mich immer schwer damit, ein Alter zu schätzen, aber in diesem Fall würde ich auf Anfang fünfzig tippen. Vielleicht fünfzehn Jahre älter als Thomas.
„Herzlich Willkommen im Keller der Liga Rostocks", begann ich tapfer. „Ich bin April Fischer. Wie du dir sicherlich denken kannst, bin ich eine Geisterbeschwörerin. Magst du mir deinen Namen verraten?"
Die Augen des Geists zuckten durch den Raum, erfassten die backsteinerne Wand zu meiner Rechten, die Lichterkette vor dem Fenster zu meiner Linken, das Sofa in meinen Kniekehlen, die terrakottafarbenen Fliesen, Thomas... Sagen tat er nichts.
„Ich habe nach deinem Namen gefragt. Wie heißt du?"
Der Geist schwieg.
Vielleicht hatte ihn die Beschwörung etwas überwältigt. Man bekam schließlich nicht alle Tage einen neuen Körper verpasst.
„Dein Vorname würde mir schon reichen", ergänzte ich. „Damit würdest du auch nichts Wesentliches über dich und deine Vergangenheit verraten, falls das der Grund sein sollte, der dich davon abhält, ihn zu nennen."
„Das gilt natürlich nur, solange dieser Name nicht total ungewöhnlich ist, wie es bei den Kindern mancher Prominenter vorkommt." Thomas nickte weise. „Wenn er einen solchen Namen tragen würde, würde das schon eine Menge verraten."
„Shh, Thomas. Lenk ihn nicht mit Nebensächlichkeiten ab." Ich lächelte den sehnigen Geist vor meinem Schreibtisch freundlich an, was eine Glanzleistung war, wenn man bedachte, dass sich in meinem Magen gerade ein gähnendes Loch auftat und mich Hunger immer griesgrämig werden ließ. „Komm schon. Lass mich nicht im Regen stehen. Du willst doch bei unserem ersten Gespräch nicht gleich unhöflich zu mir sein, oder?"
Er äußerte sich weiterhin nicht.
„Nett." Ich seufzte matt. „In Anlehnung an die Tradition werde ich dich also Geist 3 nennen müssen. Willst du mir vielleicht sonst irgendetwas mitteilen? Ich akzeptiere auch Gestik als Kommunikationsmittel. Kopfschütteln, Nicken, was auch immer dir am liebsten ist." Ich wartete.
Thomas wartete.
Der Geist wartete.
„Gut, dann eben nicht!" Frustriert stemmte ich meine Hände in die Hüften. „Da ist Bernd ja gesprächiger gewesen als du! Er hat zwar fast nur Flüche von sich gegeben, aber damit konnte man immerhin etwas anfangen."
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Spuk am Baumhaus
Novela JuvenilFortsetzung von Spuk im Keller. Über den Umgang mit Geistern: 1.: (Sei auf der Hut.) Das hilft gar nichts. 2.: (Lege, wenn möglich, Schutzweste und Helm an.) Sich an einem sicheren Ort anzuketten, ist noch besser. 3.: (Sei auf der Hut.) Siehe oben. ...