𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 6

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Dag ließ das Buch erneut nach unten sinken und starrte statuenhaft ins Leere.

Wie war das möglich?

Zufall?

Das, was er da gelesen hatte, hatte er erlebt. Er wusste noch, wie er nach den Ferien Vincent vor der Schule angetroffen hatte, wie dieser mit Sebastian gesprochen hatte, dem er ein paar Unterlagen versprochen hatte. Dafür hatte dieser ihm auch Geld angeboten.

Vincent wollte es nutzen, um noch einige Dinge zu besorgen, für ihr kleines Studio.

Irgendwie war das so sein kleines Nebeneinkommen, in dem er diesem Schnösel alles hergab, was er bereits im Jahr davor schulisch gemeistert hatte.

Was ihm jedoch an dem Tag aufgefallen war, war Élaine gewesen.

Sie war kaum wiederzuerkennen. Er fand sie schon zuvor hübsch, aber auf die eine oder andere Weise war sie in den Sommerferien mehr erblüht. Dag konnte es nicht anders definieren.

Ihre fast schwarzen Augen visierten ihn in diesem Moment.

Genau dasselbe nur spiegelverkehrt, was er gerade in diesem Buch gelesen hatte.

Sie hieß nicht Elea. Und er war nicht Dain.

Das, was er da gelesen hatte, war tatsächlich geschehen.

Und Veit ... das war eindeutig Vincent. Sowie dieser Samuel Élaines damaliger Freund Sebastian war.

Auch diese drei Freundinnen in dem Buch kannte Dag genau. Sie hießen in Wahrheit, Tabea, Maike und Yanamaria. Selbst wenn letzterer Name oder generell der, jener dritten im Bunde, nicht vorgekommen war, hatte er es ausführlich bildlich vor sich.

Abermals blickte er auf den Namen der Schreiberin und suchte dann den Teil, wo etwas über sie stand.

Kein Bild war vorhanden und nur eine kurze Beschreibung.

Johanna Wild ist das Pseudonym einer in Hamburg lebenden Autorin.

Ende.

Mehr Informationen gab es nicht.

Dags Stirn blieb gerunzelt und er stand auf. Er musste mehr erfahren. Er musste das Ende lesen. Vielleicht würde ihm das sogar eine Antwort auf weitere Dinge liefern.

War es seine Geschichte mit Élaine?!

Hatte sie dieses Buch geschrieben?

Und ... wieso war sie ohne Erklärung damals gegangen?!

Er blickte zu der Badezimmertüre. Die Dusche lief noch. Das Gespräch mit Katharina schien ihm nicht mehr wichtig. Stattdessen nahm er das Druckwerk und verschwand.

Das hatte nun einen viel höheren Stellenwert.

Sie hatte ja eh vorgehabt das Buch wegzuschmeißen. Demzufolge war er ja kein Dieb und selbst wenn, es war doch irgendwie seins.

Es handelte von ihm.

Zumindest ging er davon aus. Es lag ja immer noch im Bereich des Möglichen, das nur dieses erste Kapitel ein Zufall war, aber allein der Ausdruck „kleiner Punk" ...

Nein, er irrte sich mit Sicherheit nicht.

Statt zu Fuß steuerte er nun die S-Bahn an. Er musste dringend weiterlesen. Beziehungsweise ... das Ende. Nur das würde ihm bestimmt mehr sagen können, ob es tatsächlich seine Geschichte war.

Dag nahm sofort platz, als die Bahn eingefahren war, und schlug das letzte Kapitel auf.


Heut war der Tag. Auf irgendeine Art war dieser schlimmer, als der Grund weshalb, ich das hier durchziehen musste.

Ihn zu verlieren tat mir in der Seele weh.

Ich konnte es nicht länger vor mir herschieben.

Eigentlich hätte ich es schon viel früher tun müssen, aber ich hatte mich nie getraut. Mir war klar gewesen, dass es dann kein anderes Thema mehr gegeben hätte.

Dain hätte ich eine Bürde aufgezwungen, die er nicht hätte tragen sollen.

Mir war extrem schwindelig gewesen, als ich das Haus von Veit erreicht hatte. Ich wollte zu Fuß gehen, hatte aber meine Eltern belogen, dass ein Taxi dafür zuständig sein würde.

Irgendwie wollte ich doch noch Zeit schinden und hatte deshalb die längere Variante gewählt. Obwohl ich es jetzt mehr als bereute, denn umso weniger Zeit blieb mir mit ihm.

Hier bei Veit hatten sie sich im Keller ein kleines Musikstudio realisiert und mir war klar gewesen, das wenn er nicht bei sich war, er nur hier sein konnte.

Zögerlich betätigte ich die Klingel und Veits Mutter Frau Fels öffnete die Türe.


Dags Augenbrauen zogen sich zusammen. Frau Fels? Ehrlich? Eindeutiger ging es doch nicht mehr.


»Oh. Hallo Elea. Wie geht es dir?« , fragte sie mich freundlich.

»Gut und Ihnen?«

»Kann nicht klagen. Du suchst bestimmt Dain, oder?« Sie lächelte mich an.

»Ja. Also ... er ist nicht zu Hause, und ... deshalb gehe ich mal davon aus, dass er hier ist.«

»Ja. Wo soll er auch sonst sein.«

Ja, sie wusste genau so gut wie ich, dass man die beiden nie lange trennen konnte. In diesem Moment hoffte ich für Dain, dass diese Freundschaft mit Veit auf ewig bestehen würde.

Er sollte dringend etwas für die Ewigkeit haben, weil unsere Pläne nicht mehr realisierbar waren.

Mit klopfendem Herzen ging ich hinab, nachdem Frau Fels mich reingelassen hatte. Veit war der Erste, der mich erblickte und begrüßte mich, eh Dain mich sofort lächelnd ansah.

Dieses süße Lächeln.

Ich hoffte, es würde sich noch lange in meinem Kopf einprägen lassen.

»Hey Schatz.« , kam aus seinem Mund.

»Seid ihr zwei also wieder fleißig.« , sprach ich und ging zu Dain. Sanft und langsam küsste ich seine Lippen und versuchte währenddessen, meine anrückenden Tränen zurückzuhalten.

Er zog mich auf Anhieb auf seinen Schoß und küsste mein Schulterblatt. Eine Gänsehaut überfiel mich und ich musste sofort an unsere Anfangszeit denken. Wie alles so plötzlich und unerwartet mit uns begonnen hatte. Mehr als unerwartet.


Dag musste sich ein wenig sammeln.

Das war Élaine. Der Tag als sie aus seinem Leben verschwunden war. Aber ... wenn sie so gefühlt hatte, wieso war sie abgehauen?

Weshalb hatte sie ihn verlassen?

Mein Leben ist nicht wie ein Film, es ist wie ein BuchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt