Teil 1

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~ Jessica~

15:45 Uhr.. Mist, Mist, Mist! Wie sollte sie es bloß rechtzeitig bis 16 Uhr schaffen? Verzweifelt blickte Jessica aus dem Fenster der Kölner S – Bahn Nr. 13, die Richtung Hansaring fuhr. Vom Kölner Hauptbahnhof war es zwar nur eine Station, eine so kurze Fahrt, daß man sich gar nicht erst hinsetzen brauchte, aber wenn sie an den etwa 700m langen Fußmarsch dachte, der ihr von dort aus noch bevorstand, ehe sie am Ziel war, wurde ihr klar, daß sie es auf gar keinen Fall pünktlich schaffen würde. Wieder schaute Jessica auf ihre Uhr. 15:49 Uhr. Na prima, die Zeit schien heute so gar nicht auf ihrer Seite zu sein. Wie konnte es sein, daß die Zeit schneller verging je weniger man davon hatte und langsamer, wenn man jede Menge hatte und sie unbedingt vergehen sollte? Das war ein Phänomen, mit dem sie sich schon so oft beschäftigt hatte, denn Jessica schien es, als wenn ihr ganzes Leben nur aus Terminen bestand, die sie entweder gerade noch so oder gar nicht einhalten konnte. Kurz gesagt: Sie hatte ein unglaubliches Talent dafür, überall in letzter Minute oder zu spät aufzutauchen und es war egal, ob sie sich rechtzeitig oder extra früh auf den Weg machte. Irgendetwas schien sich immer gegen sie verschworen zu haben. Entweder wollte ihr Auto nicht starten und wenn es startete, bemerkte sie, daß der Tank so gut wie leer war. Das hieß, sie mußte erst noch tanken fahren, und natürlich war die einzige Tankstelle in der Nähe ausgerechnet dann, wenn Jessica es eilig hatte, gut besucht. Fuhr sie nicht mit dem Auto, fiel entweder ein Bus aus, der laut Fahrplan eigentlich hätte fahren sollen oder sie sah ihn an der gegenüberliegenden Straßenseite vor ihrer Nase wegfahren, während sie an der roten Fußgängerampel stand. Selbst an diesem Tag war es nicht anders gewesen. Sie hatte zwar den Zug nach Köln erwischt, was schon ein kleines Wunder war, aber als Jessica dann, natürlich wie immer wieder im Wettlauf gegen die Zeit, am Kölner Hauptbahnhof die Treppe zum Bahnsteig hochstieg, an dem die S-Bahnen abfuhren, konnte sie die Bahn, die zum Hansaring fuhr, nur noch beim Wegfahren beobachten. Sicher, es war nicht die einzige Bahn, die dorthin fuhr. Eigentlich fuhren mindestens 3 oder 4 Bahnen in diese Richtung, aber es dauerte ganze 3 Minuten, ehe die nächste fuhr. Drei Minuten Wartezeit, die normalerweise keinen Menschen ärgerten, aber für sie waren es drei Minuten, die ihr jetzt fehlten. Drei Minuten, in denen sie schon längst auf dem Weg zu ihrem Ziel sein konnte. Nicht, daß das, was sie vorhatte so lebenswichtig war. Ganz und gar nicht. Zumindest nicht für andere Menschen, aber für Jessica in irgendeiner Weise schon. Sie hatte zu lange warten müssen, ehe sie diese Möglichkeit erhalten hatte, natürlich wieder in allerletzter Minute. Nein, das war natürlich übertrieben, obwohl es zu ihrem bisherigen Leben gepasst hätte, wenn es so gewesen wäre. Viel mehr war es so, daß das, was sie vorhatte, nur noch an diesem Tag möglich war. Um 16 Uhr. Und danach nie wieder.

Erleichtert sah Jessica, daß die Bahn endlich die Haltestelle Hansaring anfuhr und sie fing ungeduldig an, auf dem Türöffner herumzudrücken, obwohl die Bahn noch nicht mal gehalten hatte und die Türen sich sowieso noch nicht öffnen würden, ehe die Bahn nicht gehalten hatte. Aber wie oft wollte man Türen aufdrücken, auf denen „Ziehen" stand? Auch etwas, das Jessica bereits unzählige Male passiert war.

„Komm schon, komm schon..." murmelte sie verzweifelt vor sich hin und widerstand dem Drang, erneut auf ihre Uhr zu sehen. Es würde sie eh nur wieder aufregen und ihr zeigen, daß sie viel zu spät dran war. Als die Bahn schließlich zum Stillstand gekommen war und die Türen sich endlich öffneten, stürzte Jessica regelrecht hinaus, rempelte ein oder zwei Leute an, die einsteigen wollten und rannte in Richtung der Treppen, die auf die Straße hinunterführten. Nachdem sie sich kurz orientiert hatte, wobei sie für einen Moment die Panik ergriff, vielleicht doch völlig falsch zu sein, rannte sie auf eine Fußgängerampel zu, die selbstverständlich gerade rot zeigte und auch nicht so aussah, als wenn sie in der nächsten Sekunde oder sogar in den nächsten 5 Minuten auf grün umspringen würde. „Das kann doch wirklich nicht wahr sein.." schimpfte sie vor sich hin, während sie beobachtete, wie die Autos ohne Unterlass über die für sie grüne Ampel fuhren. Es schien gar kein Ende zu nehmen. Ungeduldig drückte Jessica immer wieder auf den Knopf für blinde Passanten, obwohl das in Grunde auch nichts brachte, wie jeder wusste. Egal, wie oft man draufdrückte, die Ampel schien nur später auf grün zu springen. Als ob die Ampel erkannte, daß man selbst nicht blind war, und sie deswegen mit Absicht länger rot blieb.

You can try to find strength in my armsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt