53. Kapitel

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Unsere Position war nun wieder dieselbe, die wir vor dem Einsetzen meiner Gabe eingenommen hatte. Wir beiden saßen wieder auf den Stühlen in meiner Küche, mein leerer Teller an meinem Platz und ein aufgelöster Raphael vor mir.
»Ich bin immer für dich da, Raphael. Wir stehen das zusammen durch.« Unsere Hände lagen immer noch beieinander und keiner von uns hatte jetzt das Bedürfnis sie wegzuziehen. Er nickte, sah mir in die Augen und ich wusste, dass er genau diese Worte gebraucht hatte. »Ich bin froh, dass du hier bist, Taya,« sagte er dankbar aber niedergeschlagen. »Ich auch.« Friedliche Stille legte sich über den Raum. Jedoch hielt sie nicht besonders lang an.
»Ich glaub, ich werde mich mit Cole verabreden.« Ich wollte mit ihm über Shira reden und insgesamt, es wurde Zeit, über uns zu reden. »Das heißt du hast frei für heute.« Ich stand auf und lächelte ihn an. Er erwiderte es bedrückt. »Dann soll er dich aber abholen, wenn ihr nicht hierbleibt.« Er klang schon wie der große Bruder, den ich nie hatte. »Ich weiß. Schlaf besser.« Ein letztes Lächeln richtete ich an ihn, stand dann auf und bewegte mich dann in Richtung Flur. Dort wählte ich Cole's Nummer und nachdem es einige Zeit geklingelt hatte, sprach eine männliche Stimme aus dem Handy: »Taya? Was ist?« Ich schritt zum Treppengeländer, das nach oben führte und lehnte mich dort an. »Könnten wir uns treffen?« Raphael kam nun auch aus der Küche, die Augen immer noch leicht rötlich. Er bewegte sich an mir vorbei die Treppen hoch. »Klar. Jetzt sofort? Soll ich dich abholen?« Er klang voller Hoffnungen. Dass er immer noch so an uns festhielt, versetzte mir einen tiefen Stich im Herzen. Aber jetzt würde ich ihm klarmachen, wie es zwischen uns war. Ich atmete tief ein und aus. »Ja. Ich hab schon eine Idee, wo wir hingehen könnten.«
»Ich mach mich auf den Weg.« Er legte auf und ich begab mich nach oben, um frische Sachen anzuziehen. Nachdem ich die Treppen erklommen hatte, ging ich weiter den Mittelgang entlang in mein Zimmer. Ich suchte mir ein paar Sachen heraus und zog sie an. Dann setzte ich mich aufs Bett und sah mich in meinem Zimmer um. Mein Blick fiel auf ein Bild meiner Familie, Fay, meine nicht biologische Mutter und mein nicht biologischer Vater hatten eine Art Selfie gemacht. Sie lächelten alle und auch wenn ich auf dem Bild nicht zu sehen war, erinnerte ich mich an den Moment, an dem sie es gemacht hatten... Diese Erinnerungen, sie waren etwas, was ich immer bei mir behalten würde. Unsere Familie war auf einer Lüge aufgebaut worden... Aber ich vermisste sie alle. Meine Tante, meine Adoptiv-Eltern, mein altes Leben. Ob mein altes Leben auch Cole einbezog, konnte ich nicht sagen. Aber es wäre so viel einfacher, wenn ich weiter in der Vergangenheit leben könnte. In der Zeit, in der ich mehr Freude und Liebe erlebt hatte als je zuvor, anstelle dieses Hasses, dieser Wut und dieser Trauer, die mir wie ein Schatten folgten. Es klingelte und ich fragte mich, wie Cole es geschafft hatte, so schnell herkommen zu können. Ich ging runter und kam mit jedem Schritt der dunklen Holztür näher. Schließlich öffnete ich die Tür und blickte Cole entgegen. Nein, ehrlich gesagt, war es das, was ich erwartet hatte. Aber da war kein braunhaariger Junge, sondern nur ein Päckchen auf dem Boden, was ich aber erst bemerkte, nachdem mein Blickfeld sich nach unten richtete. Sofort war ich hellwach. Erst jetzt verspürte ich die drohende Gefahr, die eigentlich über mir schwebte. Misstrauen nistete sich in meinem Kopf ein und ich trat bedachtsam einen Schritt aus der Tür hinaus. Dann "scannte" ich meine Umgebung nach Gefahr, irgendetwas Ungewöhnlichem ab. Doch rein gar nichts wies auf Gefahr oder meinem Verdacht COS hin. Abgesehen von diesem geheimnisvollen Päckchen und diesem mulmigen Bauchgefühl, das ich nicht los wurde. Der Himmel sah ziemlich dunkel und bewölkt aus, ein starker Wind wirbelte die Blätter auf den Straßen auf und ich sah ein Paar den gegenüberliegenden Weg entlang laufen. Ich erkannte sie als meine Nachbarn wieder und so erschienen sie mir auch nicht bedrohlich. Vorsichtig ging ich, ohne den Blick von der Straße abzuwenden, wieder ein Schritt nach hinten. Mit einem Fuß schob ich das Päckchen mit mir rein und war kurz davor, die Tür wieder zu ziehen, als ich den endgültigen Beweis bemerkte: Raphael's Rudelmitglieder. Sie waren weg. Sein Vater, wie ich vermutete, hatte darauf bestanden, dass mein treuer Freund diese mitnahm und als Raphael gekommen war, waren sie noch hier gewesen. Ich schluckte die Angst zwar herunter, doch dadurch, dass sich mein Herzschlag deutlich beschleunigt hatte, trat sie wieder an die Oberfläche. Von Furcht gelähmt stand ich da im Türrahmen und starrte geradeaus. Ich wusste nicht, ob ich Raphael und Tom holen oder die Sache allein angehen sollte. Nun ich entschied ich für die dümmere Variante. So ruhig wie es mir möglich war, schloss ich die Tür und warf einen Blick auf das Paket. Es war groß und ironischerweise mit Geschenkband zusammengebunden. Sowohl ich als auch der Sender wussten, dass da kein Geschenk drin sein würde und dass diese kleine Note, die normalerweise als netter Zusatz benutzt wurde, gar nicht zu der Situation passte. Nun wurde mir die steigende Panik zu viel. »Komm, Taya. Reiß dich zusammen!« knurrte ich und schaltete meine panische Seite ab, um meine knallharte, die mit allem umgehen konnte, zu aktivieren. Ich hob das Paket hoch und trug es zum Esstisch. Mit zitternden Händen, die ich in dem Moment echt verdammte, entfernte ich das Geschenk- und Paketband. Dann, meinen schnellen Herzschlag dröhnend in meinem Kopf, klappte ich das Paket auf und wagte einen argwöhnischen Blick in die Box.
Eine Welle von Überraschung und Entsetzen überschwemmte mich. Ich blinzelte, um sicherzustellen, dass mich meinen Augen nicht täuschten. Mein Mund öffnete sich geschockt und ich erstarrte. Dann, endlich, streckte ich eine Hand nach dem Inhalt aus und berührte eine glatte, viereckige Oberfläche. Nachdem ich mit klopfendem Herzen die Sachen rausholte, nahm ich mir die oberste von dem Stapel und inspizierte sie. Es waren Akten. Über mich.
In einer geschnörkelten Schrift stand auf dieser und der darunter groß: "Taya Hilary" und das jeweilige Jahr. Bevor ich sie öffnete, sah ich mir jedoch die restlichen an und musste feststellen, dass alle meinen Namen als Titel trugen, mitsamt eines dazugehörigen Jahres. Und es ging von meiner Geburt hin bis zum Jahr, in dem meine Eltern starben. Die Rädchen in meinem Kopf drehten sich. Wer hatte die Akten geführt? Wieso? Warum sendete man mir das? Drei Fragen und drei Antworten. Ich kannte sie bereits alle. Aber ich wollte sie nicht so einfach hinnehmen. Meine Eltern würden das sicher nicht tun... Sie hätten mir das nie angetan. Ich war ihre Tochter gewesen und nicht ihre Laborprojekt, das unter Beobachtung gehalten werden musste. Ich schluckte diese vernichtenden Gedanken runter. Falls sie wirklich diejenigen gewesen waren, die mich beschattet hatten, musste ich mit Fay auch darüber reden. Aber selbst wenn sie es nicht gewesen waren, irgendjemand hatte mich beschattet. So oder so, war mein Leben seit meiner Geburt so wie es aussah nie wirklich sicher gewesen. Wie ich vermutete, ein Grund für das ständige Umziehen nach dem Tod meiner Eltern. Mit der einen, freien Hand strich ich über die braune Pappe. Sekunden verstrichen, in denen ich nur starr die Papiere in meinen Händen anguckte. Mir wurde klar, dass ich Angst hatte, sie zu öffnen. Angst vor der Wahrheit. Nie hatte ich diese je als Bedrohung gesehen... bis jetzt. In den letzten Wochen war aus dem furchtlosen 17-jährigen Mädchen, das früh ihre Eltern verloren hatte, aber aus dem Verlust gestärkt hervorgekommen war, ein armseliges, ständig weinendes und ängstliches Kind geworden. Mit dieser Einstellung würde ich weder meine Tante retten noch irgendjemand anderem helfen. Meine Hände legten die Akte auf den Tisch und ohne es wirklich überdacht zu haben, trugen mich meine Beine zu dem Fach unter der Spülmaschine, in dem sich der geheime Alkoholvorrat meiner Tante befand. Ich griff nach einer beliebigen Flasche und besorgte mir ein Glas, dann kam ich zurück zum Tisch. So setzte ich mich dann auf einer der Stühle. Schließlich stellte ich das Glas auf dem Holz ab, hielt es aber weiterhin fest und schüttete, nach dem Öffnen der Flasche, die goldbraune Flüssigkeit in das Glas. Dann schob ich die Flasche von mir weg und nahm das Glas in die Hand. Schweigend betrachtete ich es und fragte mich, ob das wirklich helfen könnte. Schließlich nahm ich einen Schluck. Sofort musste ich husten und wollte fast schon wieder aufstehen und das Zeug wegkippen, doch dann merkte ich wie es mir komischerweise doch irgendwie gut tat. So führte ich es wieder zu meinem Mund anstatt in die entgegengesetzte Richtung. Erneut rann der Alkohol in meinem Mund und ich schmeckte die genüssliche Bitterkeit in dem Getränk, die so perfekt meine bitteren Gedanken und Gefühle ausdrückte. Noch einen kurzen Moment genoss ich den Geschmack auf meiner Zunge und entfernte das Glas dann ein wenig von mir. Meine Hände schnappten sich die erste Akte von 1998 und ich klappte sie auf. Nun, leicht angetrunken, konnte ich die Wahrheit ertragen. Das war das Mantra, das ich während der letzten Sekunden immer wieder in meinem Kopf wiederholt hatte und immer weiter wiederholte, während ich die Akte las und mich der Wahrheit stellte.

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So hallo,
Ein paar hatten das Kapitel ja schon erwartet. Hier ist es und ich wollte es eigentlich noch weiterführen, doch ich mache ja nie so lange Kapitel. Für mich sind es eigentlich keine richtigen Kapitel, dafür passiert zu wenig, aber es ist ein weiteres Stück der Geschichte. Die letzten Kapitel waren ja ein wenig düster, wie ich sagen muss, was irgendwie darin liegt, dass ich meistens, wenn ich gerade inspiriert bin, traurig/tragisch schreiben will.
Bis eines Tages...👋🏼
Have a kind day
Eure CelestialRootedSoul 🌄

Wolves Of The Curse (Slow Updates)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt