Am nächsten Morgen setzten wir unsere Reise fort, als wäre nie etwas passiert. Als wären wir nachts nicht von Schattenwölfen angegriffen worden.
Als hätte ich Lucas nicht vor dem sicheren Tod gerettet.
Als wäre ich nicht knapp von einem Wolf erdrückt worden.
Als hätte das Gespräch zwischen Darian und mir niemals stattgefunden.
Er war wie am Anfang unserer Reise: Kalt, verschlossen, brutal.
Noch in derselben Nacht hatten Lucas Selbstheilungskräfte angefangen ihren Dienst zu tun und so hatte er die letzten Stunden bis Sonnenaufgang schreiend verbracht.
Meine Nachtruhe war also dahin.
Nach Darians und meiner Meinungsverschiedenheit hatte John sich meiner angenommen. Vorsichtig hatte er meine Wunden versorgt und mir etwas Neues zum Anziehen gegeben.
Dabei hatte sich herausgestellt, dass Darian sehr wohl kleinere Kleidung hatte, als die die er mir nach dem Baden unter dem Wasserfall gegeben hatte.
Den Sinn, der dahinter stand – falls überhaupt einer dahinterstand – konnte ich mir nicht erklären.
Warum gab er mir zu große Sachen und beschwerte sich dann, dass mein Outfit viel zu freizügig war, wenn er mir einfach etwas Passendes hätte geben können?
Als ich mich deswegen bei John aufregte, meinte dieser bloß, dass ich Darian selber fragen müsse, aber ich dachte nicht im Traum daran.
Freiwillig würde ich diesen Idioten nicht einmal mehr ansehen.
Doch das schaffte ich nicht ganz.
Sobald er in mein Blickfeld trat, begegneten sich unsere Blicke und wir starrten uns gegenseitig an.
Stundenlang waren wir geritten. Mein Rücken schmerzte auch ohne das ständige Auf und Ab und mein Oberteil war inzwischen wieder blutgetränkt.
Mein Platz war vor Darian auf seinem Pferd. Seine Arme lagen um mich herum und hielten vor meinem Körper die Zügel seines Tieres. Damit ich auch ja keine Chance hatte zu fliehen.
Natürlich...
War ja nicht so, als hätten wir jetzt ein Pferd ohne Reiter...
Jedes Mal wenn sein Atem „zufällig" mein Ohr oder meinen Nacken strich, wünschte ich ihm die Krätze an den Hals und konzentrierte mich auf die Schmerzen in meinem Rücken.
Es half mir ihn zu ignorieren und erinnerte mich daran, dass er letzte Nacht fast seinen Kameraden hatte sterben lassen.
Es erinnerte mich daran, dass er eben kein Mensch war.
Aber es fiel mir wahrlich schwer etwas Schlechtes in ihm zu sehen, vor allem seit sein Daumen beruhigende Kreise auf meinen Oberschenkel malte, nachdem ich fast vom Pferd gefallen wäre, weil eine Schmerzenswelle mich überrollt hatte.
Das war allerdings der Moment gewesen, in dem Darian entschieden hatte, dass wir eine Pause einlegen sollten.
Er und ich wussten, dass er es mir zuliebe tat. Aber warum?
Warum stieß er mich von sich, wenn er danach doch wieder meine Nähe suchte?
Warum suchte er meinen Blick, wenn er ihn nur kalt und emotionslos erwiderte?
Warum ließ er mich nicht bei einem der anderen mitreiten, wenn ich so eine Last war?
Warum versuchte er mich zu beruhigen, wenn die Schmerzen mich zu übermannen drohten?
Warum tat er so als würde er mich hassen, wenn alle wussten, dass es nicht so war?
„Autsch!" Ich biss mir auf die Lippe um nicht aufzuspringen und wegzurennen.
„Ich habe schon Männer gesehen, die bei diesen Wunden nicht mehr so ruhig geblieben sind.", beruhigte John mich, als er die Schnitte auf meinem Rücken erneut versorgte. „Danke.", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das beruhigt mich ungemein."
John lachte nur und machte weiter.
„Wenn ich etwas für dich tun könnte, damit es weniger schmerzhaft wäre, würde ich es tun.", seufzte er und ich wusste, dass er es ernst meinte.
Ich wusste, dass er sich für die letzte Nacht schämte. Dass er sich dafür schämte, dass er nichts unternommen hatte, als der Schattenwolf seinen Freund beinahe umgebracht hatte.
Lucas Schreie waren uns allen Strafe genug.
„Wie geht es ihm?", fragte ich, um mich von den Schmerzen abzulenken und deutete mit dem Kopf auf die „Gefängniskutsche". Den ganzen Weg bis hierher hatte ich reiten müssen, weil Lucas in dem hölzernen Ungetüm lag um sich zu erholen.
Auf der einen Seite war ich dankbar, dass ich nicht mehr darin eingesperrt war und auf der anderen verfluchte ich Lucas, weil ich nun Darian wieder so nah war.
Just in diesem Moment begann er wieder zu schreien und ich barg den Kopf zwischen den Händen.
„Ich würde sagen, da hast du deine Antwort." John zuckte mit den Schultern und begann meine Wunden wieder abzudecken.
„Das klingt als würde der Wolf ihn nochmal zerreißen.", stöhnte ich und zog mir dankend ein frisches Oberteil über den Körper.
„So in etwa ist es auch. Jeder Knochen wächst wieder zu seinem Ursprung. Ebenso alles drum herum. Glaub mir es ist die Hölle. In den schlimmsten Momenten wünscht du dir, der Wolf hätte dir den Kopf abgerissen. Aber wenn es erst einmal vorbei ist, bist du einfach nur noch dankbar.", erklärte er und ich verzog angeekelt das Gesicht.
„Das ist ja abscheulich.", stieß ich hervor.
„Aber besser als tot zu sein.", argumentierte John und ich schnaubte nur.
„Ihr seid doch eh schon tot, wo ist da bitte der Unterschied?", fragte ich und konnte den Sarkasmus nicht aus meiner Stimme verbannen.
John sah mich kritisch an und ich biss mir auf die Zunge.
„Tut mir leid." Ich rappelte mich auf und streckte mich vorsichtig. „Ich weiß, dass meine Kommentare manchmal unangebracht sind."
Er winkte nur ab. „Jeder verarbeitet anders."
„Ich wünschte es wäre nur das...", flüsterte ich und blinzelte hinauf zum Himmel.
Die Sonne stand weit über unseren Köpfen und würde vermutlich in wenigen Stunden untergehen.
Einige Minuten stand ich einfach nur auf dem schmalen Weg und genoss die Wärme auf der Haut.
Ob Darian so etwas wie warme Sonnenstrahlen überhaupt spüren konnte?
Oder Schnee?
Wusste er wie es sich anfühlte, wenn die weißen Flocken vom Himmel fielen, auf der Handfläche landeten und dort schmolzen?
Während ich so darüber nachdachte, kam mir ein ganz anderer Gedanke:
Würde ich all das jemals wieder spüren?
Mein Vater war ein Vampir. Ich war es zur Hälfte.
Was würde also passieren, wenn jemand auf die Idee kam, dass ich als Halbblut nicht zu gebrauchen war?
Würde man mich beiseite räumen?
Mich gehenlassen?
Oder würde ich auch zu einem dieser kalten Wesen werden müssen?
Ich schluckte als ich begriff, dass die dritte Möglichkeit die Wahrscheinlichste war.
Schlagartig war die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht nicht mehr zu spüren.
Stattdessen legte sich die Angst wie eine eiskalte Hand um meinen Hals und drückte zu.
Unwillkürlich fröstelte ich.
Was wäre wenn ich nie wieder Schnee spüren könnte?
Oder die Sonne?
Tränen begannen in meinen Augen zu glänzen, aber ich kämpfte sie nieder.
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie aussichtslos meine Situation tatsächlich war.
Die Gewissheit kam mit einem Schlag und meine Hände begannen zu zittern.
Lebend würde ich diese Welt nicht mehr verlassen.
Wie tot ich letzten Endes sein würde, war nur eine Frage der Zeit.
Entweder war ich so tot wie ein Mensch es nur sein konnte, oder aber ich war tot in Form eines Vampirs.
Ehrlich gesagt wollte ich nichts davon sein.
Ich war glücklich als Mensch. Verzeihung: Halbblut.
Es ging mir gut.
Mein Leben vor dieser Entführung war... perfekt. Na gut vielleicht nicht perfekt. Aber sehr nah dran.
Ich meine, ich hatte eine tollte Zukunft in Aussicht, Freunde, eine Beziehung. Ich war glücklich.
Auch wenn es alles eine Lüge war: Ich war zufrieden und das war doch die Hauptsache.
Zittrig atmete ich aus, als ich merkte, dass ich begann meine eigenen Lügen zu glauben, denn Zuhause war ich alles andere als glücklich und zufrieden.
Die Realität war immer anders, als der Kopf es einem vorgab.
Aufgewachsen ohne Eltern.
Freunde, die nur aus Mitleid mit mir befreundet waren.
Eine Beziehung, die zum Scheitern verurteilt war.
Und immer diesen einen Gedanken im Kopf:
War das schon alles?
War das wirklich das wahre Leben?
Genau in diesem Moment hatte ich endlich eine Antwort auf diese Fragen:
Nein! Das war nicht alles.
Das was ich bis jetzt gelebt hatte, war kein Leben.
Ich war lediglich den leichteren Weg gegangen.
In dem ich mich angepasst hatte.
Getan hatte, was von mir erwartet wurde.
In dem ich meine eigenen Bedürfnisse verdrängt hatte.
In dem ich mich verdrängt hatte.
Nun wusste ich, dass ich all das nie wieder sein wollte.
Das erste Mal in meinem Leben passierte etwas Aufregendes. Etwas Unberechenbares.
Etwas Unvorhersehbares.
Mein bisheriges Leben war eine Lüge.
Und was noch viel schlimmer war:
Ich hatte keine Angst vor dem was ich gerade erlebte.
Denn das erste Mal konnte ich wirklich sein, wer ich war und dieses Wissen brachte mich dazu die Tränen zu vergessen und die Augen wieder zu öffnen.

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Teufelsherz
FantasyDies ist die Legende über eine verschwundene Prinzessin und eine längst vergessene Welt. Eine Welt, die unter der unseren existiert. Eine Welt in der Blut Macht bedeutet. Elizabell hat alles was sich eine junge Frau wünschen kann: Einen Fre...