Kapitel 46

110 8 0
                                    

"Anna, mein Kind, benutz doch bitte eine Serviette, um dir den Mund abzuwischen."
Alle Augenpaare drehten sich zu mir.
"Was ist denn mit meiner Hand nicht okay?", fragte ich und spielte unschuldig.
"Eine Serviette benutzen gehört zu den guten Manieren."
Meine Tante ließ einen Seufzer aus. "Es ist doch nicht so schlimm, Louise. Wir sind unter uns. Sie hat doch nichts Falsches getan."
Meine Mutter wendete sich zu meiner Tante und schaute sie böse an. "Ich glaube, die Erziehung meiner Kinder solltest du wohl besser mir überlassen! Wenn du dich doch so gerne in die Erziehung Fremder einmischt, warum machst du dann nicht eigene Kinder?"
Die Augen meiner Tante weiteten sich und sie zuckte leicht zusammen. Ich spürte förmlich den Schmerz, den sie gerade spürte.

Wie konnte meine Mutter bloß so etwas sagen?
Tante Lucy und Onkel Steve hatten jahrelang versucht, Kinder zu bekommen, bis sie eines Tages von Tante Lucys Frauenärztin erfuhren, dass sie nicht fruchtbar war. Das war ein sehr tragisches Erlebnis für meine Tante, weil sie Kinder über alles liebte. Deswegen ist sie auch nach eigener Aussage Lehrerin geworden.
Meine Mutter wusste, wie sehr das meine Tante traf und dennoch wagte sie es sich, soetwas zu sagen.
Melanie und ich waren jahrelang Tante Lucys Kinderersatz bis sie leider aufgrund einer beruflichen Versetzung nach Chicago ziehen musste. Da war ich gerade einmal sieben Jahre alt. Seitdem sahen wir Tante Lucy nur etwa drei Mal im Jahr.
Sogar Melanie war geschockt von Moms Aussage. Sie verschluckte sich an ihrem Essen und riss die Augen weit auf.

Meine Tante räusperte sich und sagte: "Entschuldigt mich bitte."
Dann wischte sie sich den Mund mit der Serviette ab, schmiss diese auf ihren Teller, stand auf und ging.
Alle am Tisch schauten nun zu meiner Mutter. Keiner sagte ein Wort.
Wow Mom und ich soll angeblich immer die Stimmung kaputt machen.
"Ich seh mal nach ihr.", sagte ich und stand ebenfalls auf.

Ich ging die Treppen hinauf und zu unserem Gästezimmer.
Ich klopfte an die Tür, aber keine Reaktion.
"Tante Luce, ich bin's."
Immer noch nichts.
"Komm schon, mach bitte auf."
Ich hörte Schritte und dann ging die Tür einen Spalt auf.
Ich öffnete sie weiter und ging vorsichtig hinein. Tante Lucy hatte sich schon wieder auf's Bett gesetzt und schluchzte leise.
Ich konnte diesen Anblick kaum ertragen.

"Hey. Bitte weine nicht Tante Lucy. Ich bin sicher, sie meinte es nicht so. Es ist ihr nur ausgerutscht."
Ich setzte mich neben sie und umarmte sie. Sie legte ihre Arme um mich und fing noch viel lauter an, zu weinen.
"Sie meinte je- je- jedes Wo-ort so."
"Psst. Alles ist gut. Ich bin hier."
"I-ich weiß nicht, warum deine Mutter so is-ist. Als wir Ki-inder waren, w-war sie nicht so. Und irgendwann als sie älter wurde, da p-pa-passierte es."
Sie heulte laut auf und legte ihren Kopf auf meine Schulter.
Ich streichelte ihre Haare und ihren Rücken und versuchte, sie zu beruhigen.
"Es tut mir leid."
Sie putzte sich die Nase und wischte ihre Tränen weg, nachdem sie sich etwas eingekriegt hatte.
"Dir braucht gar nichts leid zu tun. Du bist so tapfer. Du stehst das alles hier durch. Ich musste es nur zwei oder drei Jahre ertragen, dann ist deine Mom ausgezogen und auf's College gegangen. Aber du, du bist ihre Tochter. Du lebst dein ganzes Leben schon damit. Und trotzdem benimmst du dich so reif und erwachsen und lässt dich nicht von ihr unterkriegen. Das bewundere ich so sehr an dir. Du bist toll."
Sie strich mir über die Wange und lächelte mich mitfühlend an.
"Es ist schwieriger als du denkst. Ich fresse viel in mich hinein. Mom kann einem echt ganz schön nah kommen.", sagte ich lachend, um die Stimmung etwas aufzulockern.
Tante Lucy lachte und verdrehte die Augen. "Sie kann ein richtiges Monster sein."

Als Tante Lucy sich vollkommen beruhigt hatte und ihre Schminke etwas korrigierte, war sie bereit, sich wieder meiner Mutter zu stellen. Wir gingen gemeinsam hinunter.
Als wir in's Esszimmer kamen, waren wir geschockt, niemanden vorzufinden.
Wir schauten uns verwundert an, als Melanie in den Raum kam.
"Geht es dir besser Tante Lucy?", fragte sie besorgt.
"Ja, danke. Wo sind all die anderen?"
"Nach dem Vorfall wollte niemand mehr so wirklich essen. Mom ist wutentbrannt aus dem Zimmer gestürmt und Dad ist hinterher. Also waren nur noch Sam, seine Eltern, Maria und ich da. Ich habe dann vorgeschlagen, dass wir uns in den Garten setzen."

Wow, das war wirklich sehr nett von Melanie. Manchmal konnte sie wirklich vernünftig sein.
Sie ging auf uns zu und umarmte Tante Lucy.
"Es tut mir leid, was Mom gesagt hat. Sie meinte es nicht so. Ich hoffe, du weißt das."
Tante Lucy nickte und gab Melanie ein Lächeln. "Danke, meine Liebe."
"Möchtet ihr euch noch ein bisschen zu uns setzen?", fragte sie.
Tante Lucy nickte und so gingen wir hinaus in den Garten. Eine leichte, kühle Sommerbrise kam uns entgegen. Melanie hatte alle Lichter im Garten angemacht und sogar Kerzen auf den Tisch gestellt. Es war wirklich schön.
Ich setzte mich mit Tante Lucy hin und sofort wurden wir in das Gespräch eingewickelt.
Wir unterhielten uns lange und hatten Spaß. Maria und Melanie ließen mich in Ruhe und ich war wirklich dankbar dafür.

Als es schon ziemlich spät wurde, machten Sams Eltern und Maria sich auf den Weg.
Tante Lucy legte sich schlafen und Melanie sprang unter die Dusche. Somit waren nur noch Sam und ich übrig. Was für ein Zufall.
Zuerst schwiegen wir uns an, aber dann begann er, zu sprechen.
"Du und deine Tante, ihr versteht euch wirklich gut."
Ich nickte.
"Es freut mich zu sehen, dass du jemanden hast, der zu dir hält und dich akzeptiert, wie du bist. Es muss schwer sein, dir immer so vieles  von deiner Mutter und von Melanie anzuhören. Da ist es mal eine tolle Abwechslung, Bestätigung zu bekommen."
"Danke. Es ist wirklich schön."

Wir schwiegen wieder.
Ich wollte gerade aufstehen und mich verabschieden, als Sam sagte: "Ich mag das nicht. Dieses Distanzierte zwischen uns. Wir trauen uns kaum, einander in die Augen zu schauen. Ich mag dich wirklich Anna und es lief doch so gut zwischen uns. Kann es nicht wieder so werden? Kann nicht einfach wieder alles normal sein zwischen uns?"
"Sam-"
"Bitte.", flehte er mich an.
Ich schaute zu ihm und sah seinen verzweifelten Blick.
Es schmerzte mich, ihn so zu sehen. Ich wollte auch nicht, dass es so zwischen uns war, aber ich kam nicht über den Vorfall einige Tage zuvor hinweg. Er war so anders. Es war erschreckend. Und außerdem fühlte ich mich schlecht, weil er der Freund meiner Schwester war und ich in ihn verliebt war. Ich konnte mit diesem Wissen nicht in seiner Gegenwart sein. Ich wollte ihm aus dem Weg gehen.
Doch ich vermisste ihn auch. Meine Gedanken kreisten ständig um ihn. Er war der erste Gedanke, wenn ich morgens aufstand und der letzte, wenn ich abends zu Bett ging.

"Alles wieder cool.", antwortete ich. Seine Augen leuchteten und ein Strahlen machte sich auf seinem Gesicht breit. Er stand auf und kniete vor mir. Dann legte er seine Hand auf meine Wange und streichelte sie sanft. Ich lehnte meinen Kopf in seine Hand und genoss den Moment. Daraufhin folgte wieder mein schlechtes Gewissen.
Sam kam näher und küsste mich. Ich küsste erst nicht zurück, aber konnte nicht länger widerstehen und küsste letztlich zurück. Ich spürte, wie Sam in den Kuss lächelte und sofort musste ich auch lächeln.
Er lehnte sich zurück und schaute mir in die Augen, als er sagte: "Ich liebe dich."

Love Triangle-Verliebt in den Freund meiner SchwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt