Thanksgiving und somit auch der Vorfall mit Sam war nun zwei Wochen her. Ich hatte mich seitdem in mein Zimmer eingesperrt und mit niemandem geredet. Melanie und Jack sind direkt am nächsten Tag abgereist und nicht wie geplant eine Woche später.
Ich hatte kaum gegessen und geduscht. Ich schleppte mich morgens in die Schule, wo ich jeden Tag Alices angepisstes und enttäuschtes Gesicht ansehen durfte und schleppte mich von dort wieder nach Hause, wo ich die angepissten und enttäuschten Gesichter meiner Eltern sehen durfte.
Und wofür das Ganze? Damit ich eine heimliche Beziehung mit dem Ex-Freund meiner Schwester führen konnte. Eine richtige Beziehung war das sowieso nicht. Ich war enttäuscht von mir selbst. Wie konnte ich es so weit kommen lassen? Wie konnte ich zulassen, dass Sam mich so in seinen Bann zieht und mich so in seiner Gewalt hat? Er musste nur mit den Fingern schnipsen und ich machte sofort, was er wollte. War das wirklich eine gesunde Beziehung? Oder sah man hier nicht genau dasselbe Muster, wie in Sams und Melanies Beziehung nur mit getauschten Rollen? Diesmal war Sam, derjenige, der die Oberhand hatte und ich war die Unterwürfige. Zwar gab es bei uns beiderseitige Liebe, aber machte es das Ganze wirklich besser?Ich wischte mir die Tränen weg, die wieder über meine Wangen liefen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An alles mögliche, egal was, ich wollte einfach nur nicht mehr an Sam und an mein beschissenes Leben denken. Er hatte mich in den letzten zwei Wochen wie üblich mit Nachrichten und Anrufen bombardiert, aber ich bin auf nichts eingegangen. Ich habe ihn einfach komplett ignoriert.
Tante Lucy hatte mir zum Abschied einen Zettel durch die Tür geschoben, auf dem stand, dass ihr die ganze Situation leid tue, sie aber dennoch von meinem Verhalten enttäuscht war. Ich hatte wirklich Scheiße gebaut.Ich hatte Nils die ganze Situation geschildert und er war der einzige, der noch zu mir hielt. Es tat ihm leid, aber er konnte mich auch verstehen. Er versuchte, mich immer aufzumuntern, aber es klappte so gut wie nie. Ich würde wohl noch eine Weile trauern müssen.
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Ich setzte mich im Park auf eine Bank und wartete. Ich war super nervös und aufgeregt. Was sollte ich ihm sagen? Wie würde er reagieren? Was würde er sagen? All diese Gedanken überströmten mich und ich wurde nur noch weiter nervös.
Tief in Gedanken versunken bemerkte ich ein Tippen auf meiner Schulter. Ich drehte mich um und da saß er. Vor meinen Augen. Sam. Er sah überhaupt nicht gut aus. Er hatte dunkle Augenringe, trug zerknauste Kleidung, seine Haare waren durcheinander und er hatte ein blaues Auge. Ich runzelte verwundert meine Stirn.
„Das war Jack. Er hat mich auf dem Campus gesehen und mir eine verpasst.", erklärte er. Ich nickte.Er beugte sich nach vorne und küsste mich. Ich musste alle Kräfte in mir sammeln, ihn nicht zurück zu küssen.
„Wir müssen reden." sagte ich. Er nickte.
Ich atmete einmal tief durch. „Das, was du an Thanksgiving gemacht hast, ist unverzeihlich. Ich weiß, du hattest die Schnauze voll mit dieser ganzen Heimlichtuerei, das habe ich auch, glaub mir, aber du hattest keine Berechtigung einfach ohne mein Einverständnis angetrunken bei meiner Familie aufzutauchen und dann noch so etwas abzuziehen. Das geht gar nicht, Sam. Du hast eine Schlägerei ausgelöst. Und du hast die Gefühle aller verletzt. Niemand in meiner Familie redet mehr mit mir. Alle sind gegen mich. Du hättest auf mich hören sollen. Ich wollte es ihnen schon noch sagen, ich wollte nur den richtigen Zeitpunkt abwarten."
„Und wann wäre dieser gewesen?", schrie Sam plötzlich laut auf. Ich zuckte zusammen und sah, wie sich einige zu uns umdrehten.
„Mach bitte keine Szene, Sam. Ich weiß nicht, wann der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, aber er war definitiv nicht an Thanksgiving."Sam fuhr sich mit der Hand durch's Gesicht und seufzte. „Hör zu, Ana. Es tut mir leid, okay? Ich weiß, dass das nicht mein bester Auftritt war, aber ich konnte nicht mehr. Du hast mir wochenlang gesagt, du willst noch abwarten und ich konnte einfach nicht mehr abwarten. Ich liebe dich und ich möchte, dass es alle wissen. Die ganze Welt soll es wissen. Ich will dich küssen, deine Hand halten und mit dir ausgehen. Vor den Augen aller anderer. Keine Versteckspiele mehr, okay? Ich will dich eines Tages heiraten. Sollen deine Eltern und Melanie etwa von der Hochzeit wegbleiben, in der Hoffnung, sie werden es nie erfahren? Und was, wenn wir Kinder bekommen? Wie willst du eine Schwangerschaft verheimlichen?"
„Woah! Ganz langsam, okay? Von Ehe und Schwangerschaft ist hier noch lange nicht die Rede. Ich liebe dich auch, aber ich brauche Zeit, okay?", entgegnete ich.„Lass uns abhauen. Lass uns alles hinter uns lassen und einfach gehen. Lass uns nach Vegas und heiraten. Dann können wir uns irgendwo niederlassen, ein kleines Häuschen kaufen und ich suche eine Arbeit. Du machst deinen Abschluss und dann kriegen wir Babys." Er packte meine Hände und schaute mich flehend an.
Ich schüttelte den Kopf und entzog ihm meine Hände. „Sam, ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber du denkst zu weit in die Zukunft. Das ist nicht gesund. Das hier zwischen uns ist keine gesunde Beziehung, okay? Ich versuche, dir klarzumachen, dass ich noch Zeit brauche und du machst mir praktisch einen Heiratsantrag. Alles, was ich wollte, war ein bisschen mehr Zeit. Trotz allem hatte ich noch immer ein schlechtes Gewissen Melanie gegenüber. Ich weiß nicht, ob du es verstehen kannst oder nicht, aber sie ist und bleibt nunmal meine Schwester, egal welche Beziehung ich zu ihr habe. Ich brauchte einfach Zeit, um diese Schuldgefühle zu verarbeiten und eventuell zu überwinden. Ich wollte sehen, was passiert, ob das mit uns überhaupt hält und dann wollte ich planen, wie ich es ihr und meinen Eltern am besten beibringe. Aber du musstest dazwischen funken und hast somit alles kaputt gemacht."Sam schaute mich wütend an. „So siehst du das also? Alles kaputt gemacht? Du bist unglaublich. Ich hab das alles nur für dich getan! Ich dachte, wenn sie es wissen, werden deine Schuldgefühle verfliegen und du wirst endlich frei sein und kannst glücklich mit mir zusammen sein! Ich dachte, dass ich dir die schwere Last, ihnen so etwas Schweres beizubringen, abnehmen kann und du dich dann nicht so schlecht und elend fühlen musst. Ich dachte, du liebst mich so wie ich dich liebe!", schrie er plötzlich und lenkte mal wieder die ganze Aufmerksamkeit der Leute auf uns.
Er packte meine Oberarme und schüttelte mich. Ich bekam leichte Angst. Er hatte bereits einmal mein Handgelenk so fest gepackt, dass ich tagelang einen blauen Fleck hatte, weil er eifersüchtig auf Nils war, obwohl ich nichts für ihn empfand. Wenn Sam nicht bekam, was er wollte, konnte er schnell wütend werden und das drückte sich teilweise aggressiv aus. Seine Liebe zu mir war nicht gesund. Und das realisierte ich in diesem Moment. Sam war so in seiner Liebe zu mir besessen und ließ sich komplett davon einnehmen und übermannen, sodass er völlig die Kontrolle verlor, wenn es nicht nach Plan lief.
„Sam, hör bitte auf. Du tust mir weh!", flehte ich ihn an, aber er reagierte nicht. Er schrie einfach weiter vor sich her, dass er mich liebte und dass er alles für mich tun würde. Seiner Meinung nach hatte er genau das Richtige getan an Thanksgiving.
Es kamen einige Leute zu uns und sprachen Sam an. Sie verlangten, dass er mich loslasse und gehe, aber er reagierte nicht auf die Leute. Sie sahen meine Hilflosigkeit und griffen schließlich ein. Zwei Männer packten Sam und zerrten ihn von mir weg. Ich strich über meine Arme, um den Schmerz zu lindern und sah weinend zu, wie Sam von den Männern zurückgehalten wurde, bis er sich beruhigte. Eine Frau kam auf mich zu und strich mir über den Rücken. Sie versuchte mich zu trösten und fragte, ob sie die Polizei rufen solle. Ich schüttelte den Kopf.Nach etwa zehn Minuten hatte Sam sich beruhigt. Die Leute wollten uns dennoch nicht alleine lassen. Einer der Männer bestand darauf, mich nach Hause zu begleiten. Ich verabschiedete mich von Sam.
„Es tut mir leid, aber so kann das nicht weitergehen. Du musst dich beherrschen und darfst nicht deine Kontrolle verlieren, wenn ich etwas mache, das dir nicht gefällt. Ich liebe dich, Sam, aber nicht so. Ich liebe den Sam, der gut drauf ist, der witzig ist und romantisch. Nicht den, der mir Angst macht, weil er so besessen von seiner Liebe zu mir ist. Ich möchte mit dir zusammen sein, aber du musst mir Zeit geben, meine Schuldgefühle und meine Familienprobleme zu beheben und wenn du nicht so lange auf mich warten kannst, dann bist du nicht der Richtige für mich. So leid es mir tut. Ich hoffe, du kannst das verstehen."
Ich umfasste seine Wangen und schaute in seine Augen. Er hatte Tränen in den Augen. Sofort sammelten sich auch Tränen in meinen Augen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und küsste ihn. Ich hielt den Kuss lange und spürte, wie er ihn erwiderte. Es war kein leidenschaftlicher oder besonders romantischer Kuss, es war eher eine Art Abschiedskuss. Ein Kuss, der Liebe und Sehnsucht ausdrückt, die aber tiefer als körperlich geht. Ich ließ vorsichtig von ihm los und schaute ihn noch einmal an. Dann drehte ich mich um und ging mit dem Mann nach Hause.
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Love Triangle-Verliebt in den Freund meiner Schwester
Teen FictionMelanie hat seit kurzer Zeit einen neuen Freund. Sie schwärmt total von ihm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er besser ist als die Arschlöcher, die sie davor gedatet hat. Als sie ihn uns vorstellt bin ich noch immer negativ eingestellt, aber Sam...