Die Seherin

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Ich war nun schon seit 8 Monaten im Trainingslager. Es hatte mir sehr wehgetan, Milah zurückzulassen, doch ich tat es ja für sie und auch für mich. Ich wollte das durchziehen. Ich wollte Heldenmut beweisen. Und wenn ich dafür sterben müsste, würde ich das auch in Kauf nehmen.

Das Lager war sehr hart. Es war lange her, seitdem ich das letzte Mal mit einem Schwert gekämpft oder mit Pfeil und Bogen geschossen hatte. Wir lernten uns zu verteidigen, was die Schwachstellen der Oger waren und wie man sie besiegte nämlich, indem man ihnen einen Pfeil direkt ins Auge schoss.

Ich ging gerade mit Remus, der ebenfalls vom gleichen Dorf kam wie ich, durch den Platz, als Hordor, der Leiter des Lagers auf uns zukam.

"Rumpelstilzchen, ich möchte, dass du bitte auf das, was in dem Käfig ist, aufpasst! Es kann teuflisch gefährlich sein! Wenn es will! Also bring es am besten gar nicht dazu!", warnte er mich noch, bevor er Remus weiterzerrte.

Ich musterte verwundert den Käfig, der mit einer weißen Decke verhüllt war. Die Neugierde nagte an mir, doch ich sollte dem Befehl, den man mir gegeben hatte, befolgen. Auf einmal hörte ich eine leise Stimme: "Bitte, helft mir! Bitte!"

Diese Stimme klang verzweifelt und rüttelte das Mitgefühl in mir. Was auch immer die dort in diesem Käfig gefangen hielten, es war ein Mensch.

Ich nahm die Decke und zog sie herunter. Was mir entgegenstarrte, ließ mich für einige Sekunden erstarren. In dem Käfig befand sich ein kleines Mädchen mit roten lockigen Haaren. Doch das war nicht mal das Außergewöhnlichste! Dort, wo eigentlich ihre Augen sein sollten, war alles zugenäht.

"Bitte helft mir! Gebt mir Wasser! Ich hatte seit Tagen nichts mehr zu trinken!", hauchte sie.

"Wer bist du?", fragte ich skeptisch.

"Ich bin eine Seherin!", antwortete sie, "ich brauche keine Augen. Ich sehe mit meinem Körper!"

Zum Beweis hob sie ihre Hände und ich wich vor Schreck ein Stück zurück. So etwas hatte ich ja noch nie gesehen! In ihren beiden Handflächen waren zwei große Augen und starrten mich an.

Dann senkte sie den Blick. "Du wirst bald Vater sein! Deine Frau Milah wird in einer stürmischen Winternacht ein Kind gebären! Du wirst eine schöne Tochter haben!", sagte sie und ihre Stimme klang so, als wäre sie weit weg. Dann senkte sie ihre Hände wieder.

Ich konnte nicht anders, als mit starrem Blick und offenem Mund dazustehen.

"M...milah ist s...schwanger?", stotterte ich und ein Hauch von Zweifel und Entsetzen schwang in meiner Stimme mit.

Das konnte doch unmöglich wahr sein! Sie hätte mir doch etwas gesagt!

Das Mädchen hob ihre Hände erneut. "Ohh jaa!", sagte sie, "doch du wirst im Ogerkrieg sterben! Deine kleine Tochter wird vaterlos aufwachsen, wenn du weitermachst!"

Neiiin! Das konnte nicht sein! Ich wollte das nicht!

"I...Ich w....werde sterben?", fragte ich panisch und konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen kamen.

Sie nickte ernst. Ich wich noch ein Stück zurück.

Nein, ich konnte nicht zulassen, dass mein Kind ohne ihren Vater aufwächst. Aber wenn ich jetzt zurückginge, dann würden mich alle für einen Feigling halten. Was sollte ich denn jetzt nur tun?

"Kannst du mir bitte bitte Wasser geben?", flehte mich das Mädchen erneut an. Trotz meiner Panik bekam ich Mitleid mit ihr, denn sie sah wirklich entkräftet aus. Ich nahm heimlich einen Becher und füllte ihn mit Wasser. Sie nahm ihn dankend an und trank in heftigen Schlücken.

"Aber was soll ich denn jetzt bitte machen?", fragte ich verzweifelt, "ich kann nicht wieder zurückgehen! Alle werden mich für einen Feigling halten! Und wer weiß, ob du überhaupt die Wahrheit sagst!"

Ich wollte mich schon umdrehen und gehen, da rief sie mich zurück: "Rumpelstilzchen!"

Ich drehte mich zu ihr um und kam dem Käfig wieder näher.

"Dein Kind wird etwas besonderes sein! Du musst gut auf sie aufpassen! Du musst sie beschützen, Rumpelstilzchen! Es wird etwas ganz bedrohliches auf euch zukommen, dass es auf sie abgesehen hat. Sei immer auf der Hut! Sie wird später in großer Gefahr sein!", beendete sie, bevor sie in einer schwarzen Rauchwolke verschwand.

Once upon a time ~ The beast's daughterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt