Sovine I

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Sovine I

„Sovine! Kind, bleib nur von den Tieren weg! Nein, wenn dein Vater dich dabei erwischt … ach, warum rede ich eigentlich mit dir? Du bist unmöglich!“ Die alte Frau stützte sich auf ihren Gehstock und betrachtete kopfschüttelnd das kleine Mädchen, das zwischen den gewaltigen Pferden ihres Onkels herum tollte. Warum hatte man sie auch nicht in den Stall gebracht, nach dem sie von der Kutsche gespannt worden waren. Jeder hier wusste, dass die zwölfjährige Tochter des Gutsherren jedes große Tier ihren Nähstunden vorzog. Und am Ende würden auch wieder jeder darunter leiden. Das Kleid des blonden Mädchens, die Amme, die ihr hinterher humpeln musste und der ganze Hofstaat, der für den Rest des Tages die schlechte Laune des Herrens ertragen musste.

 Timotheus von Norderfels war der wohlhabendste Gutsherr im ganzen Peor-Gebirge. Er verfügte über weite, bergige Landstriche und über das Tor von Norderfels, das für die Händler der einzige Weg durchs Gebirge war. Er schätzte Sitten und Gebräuche und hatte sieben Kinder, zwei Töchter und fünf Söhne, die er streng nach jenen Sitten erzog. Bloß bei einem Kind schien diese Erziehung vollkommen sinnlos zu sein. Sein jüngstes Kind, Sovine. Sie hatte ihre Mutter im Kindalter verloren und wehrte sich von jeher gegen alles, was ihr zu schicklich oder zu weiblich war. Doch das schlimmste war für den Vater ihr tatsächliches Talent. Sie konnte besser mit dem Schwert umgehen, als ihre beiden nächstältesten Brüder und ritt störrischere Pferde, als sein ältester Sohn. Wäre sie ein Junge, wäre sie perfekt gewesen, so aber war sie genau das Gegenteil von dem, was er schätzte und förderte.

 Auch dieses Mal, als er sie zwischen den riesenhaften Tieren spielen sah. „Sovine! Mach das du von den Tieren da wegkommst!“, rief er erbost von seinem Fenster aus. Er stand im Salon seines Hauses. Hinter ihm kam besorgt seine ältere Tochter Imogen heran. „Alles in Ordnung, Vater?“, fragte sie besorgt. Dieser fuhr zu ihr herum. „In Ordnung? Nichts ist in Ordnung. Deine Schwester ist schon wieder unten bei den Pferden. Such einen deiner Brüder und sag ihm, er soll diese verdammten Viecher in den Stall schaffen!“

 Er hatte selten solche Ausbrüche. Nur seine Jüngste konnte ihn so zur Weißglut bringen, das wussten alle. Und trotz alledem war der blonde Wirbelwind von Norderfels der Sonnenschein für alle, die hier lebten. War schlechte Stimmung, sorgte sie für bessere, war jemand traurig, munterte sie ihn wieder auf. Vom Kleinkindalter an tobte sie durch das riesige Herrenhaus und sorgte bei seinen Bewohnern und Bediensteten für sowohl Freud als auch Leid. Doch je älter sie wurde, desto griesgrämiger sah der Herr dieses Verhalten. Und das bekam auch Sovine zu spüren.

 „Geh hinauf in dein Zimmer, Sovine. Beschäftige dich sinnvoll. Nähe, zeichne, lese oder musiziere. Beschäftige dich – aber nicht so!“ Damit schloss er das Fenster geräuschvoll und ließ sich in einen seiner Sessel sinken.

 Als sie sicher war, dass er nicht mehr aus dem Fenster sah, schnitt Sovine eine Griemasse in seine Richtung und stapfte ins Hausinnere. Dort stieß sie mit ihrem ältesten Bruder, Kenneth von Norderfels zusammen. Er war fünfzehn Jahre älter als sie und ihr geheimer Verbündeter. „Du hast es also wieder geschafft, ihn zu erzürnen“, stellte er schmunzelt fest. „Du bist wirklich unmöglich. Also dann, ich darf nun deinetwegen die Pferde in den Stall bringen.“ Sovine machte ein noch finstereres Gesicht. „Aber warum nur, komm doch lieber mit mir nach oben, damit wir etwas sinnvolles machen können“, antwortete sie verdrießlich. „Wir könnten Vater sein hundertstes Schnupftuch besticken oder musizieren, damit uns jeder sagt, wie toll wir spielen.“

 Kenneth schüttelte lachend den Kopf. „Ach Elfchen, du wirst einmal den Titel zur undamenhaftesten Dame erhalten.“

 Sie verbeugte sich. „Vielen Dank, Sir. Nun entschuldigen Sie mich, ich muss musizieren.“ Damit polterte sie die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Raum, bevor sich die Amme oder ihr Vater über den Krach beschweren konnten. Auch wenn man es als Außenstehender vielleicht nicht verstand, diese Familie hätte nicht glücklicher sein können.

DrachenmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt