Zitamun II - Misstrauen und Verrat

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Zitamun II – Misstrauen und Verrat

Sovine hatte sich selten so wütend und hilflos zugleich gefühlt.

Es war trauriger Alltag in Tenorley, das Verstoßen der eigenen Kinder. Während der Tage des Kosks, wuchs die Zahl der Straßenkinder für gewöhnlich täglich um ein oder zwei Kinder. Banden von kleinen Ukleenry beherrschten die abgelegeneren schmutzigen Teile der Stadt, so war es schon immer gewesen.

In seltenen Fällen nahmen sich Familien in der Stadt der herrenlosen Kinder an. Manchmal, wenn die Kleinen besonders jung oder hilflos waren. Die Stadt war ihren Straßenkindern gegenüber nicht feindlich gesinnt, sie gehörten genauso dazu wie Handwerker und Händler. Viele der Familien, die nun die Häuser der Stadt bewohnten, hatten eine Generation früher selbst noch im Dreck der Gassen gehaust, denn für gewöhnlich waren die meisten Kinder da draußen wenig erpicht darauf, einem neuen Clan beizutreten, wenn sie älter waren. Erst einige Generationen später wanderten die Familienmitglieder langsam wieder zurück in die Wildnis und erbaten Aufnahme in einem der unzähligen Clans …

Trotzdem war es ein kleiner Skandal, von dem viele noch sehr lange erzählen würden. Ost-Wölfe waren stolz und gefährlich. Sie waren mit einer ganzen Reihe anderer Clans verfeindet und es gab nur wenige, die sich freiwillig auf einen Kampf mit den Wölfen Tamunkas einlassen würden. Die meisten Kinder waren von klein auf so sehr in die Traditionen der Wölfe eingebettet, dass ihre Persönlichkeit einfach wölfische Züge annehmen musste. Und das nun gerade ein potentielles zukünftiges Oberhaupt so aus der Reihe der Wölfe ausgebrochen war, hatte nach kurzer Zeit sogar außerhalb der Wilderlande Wellen geschlagen.

Was Sovine wütend machte, war die Reaktion von Tamunka gewesen. Wie konnte er seinen Sohn, den er Momente zuvor noch mit so viel Stolz angesehen hatte, einfach weglaufen lassen? Ein Sechsjähriger völlig auf sich allein gestellt in Tenorley, erst Recht nachdem er sein ganzes Leben lang ganz abgeschottet in weit entfernten schroffen Landstrichen gelebt hatte.

Sie hatte sich am gleichen Tag noch selbst auf die Suche nach dem Kleinen gemacht, nachdem sein ehemaliger Clan bereits wieder die Stadt verlassen hatte. Sie hatte den Ausdruck in den Augen Zitamuns Schwester gesehen, nachdem diese zum zukünftigen Oberhaupt ernannt worden war. Dies war eine weitere Sache, die ihr nicht in den Kopf wollte. Wie konnte man ein so junges Mädchen zwingen, zwischen Bruder und Vater zu entscheiden?

Die Suche war natürlich vergeblich gewesen. Tenorley war riesig, selbst großangelegte Durchsuchungen waren mit großer Wahrscheinlichkeit aussichtslos. Die Winkel und Gässchen, in denen sich die verstoßenen Straßenkinder versteckten lagen über die ganze Stadt verstreut und waren für gewöhnlich nur schwierig zu finden, geschweige denn zu erreichen.

Trotzdem ließ sie, auch nach einigen Jahren der Gedanke an Zitamun nicht los. Irgendetwas hatte der junge Ukleenry an sich gehabt. Es war eine Aura der Andersartigkeit gewesen, ein Hauch des Ungewissen. Sie hatte so viele Ukleenry kennengelernt, Junge und Alte, aber Zitamun hatte in den wenigen Sekunden, in denen sie ihm in die Augen geschaut hatte etwas ausgelöst, das sie nur sehr schwer in Worte fassen konnte. Und das war so frustrierend an der ganzen Situation.

Sie wusste, dass da etwas gewesen war, aber um es genauer herauszufinden, wäre mehr Zeit nötig gewesen. Zeit, die sie nicht gehabt hatte, da er im nächsten Moment plötzlich davon gerannt war. Den Kzu des Kleinen hatten Fuoco und sie etwa zur gleichen Zeit gespürt wie Zitamun selbst. Es war eine seltsame Eigenart, die ihnen nun schon unzählige Male aufgefallen war.

Und dann hatte der Junge so geistesgegenwärtig reagiert. Kaum zu glauben, dass er in seinem Alter schon so viel Verständnis für seine Situation gehabt hatte. Viele blieben einfach wie angewurzelt stehen, den Blick entsetzt auf das Tier gerichtet, das gar nicht da sein dürfte.

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