1980

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„Die Wahrheit ist eine unzerstörbare Pflanze. Man kann sie ruhig unter einem Felsen vergraben, sie stößt trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist." – Frank Thiess

„Sag die Wahrheit. Ich wiederhole es jetzt noch ein einziges Mal. Hast du die Kekse gegessen?"

Sein Vater und auch seine Mutter schauten ihn an. Die Atmosphäre war angespannt. Sein Vater ballte die Hände zu Fäusten. Seine Mutter faltete die Hände, wie beim Gebet. Wenn er gestand, würde die Bestrafung gering ausfallen, doch er verdiente sie nicht. Dabei war ihm egal, dass sein Bruder die Kekse nicht gegessen hatte. Er war es gewesen.

„Ich habe sie nicht gegessen. Adam war es." Er deutete auf seinen Bruder, der in der Ecke stand, den Blick gesenkt.

Adam war schon immer der Schwächere von ihnen beiden gewesen. Die Pupillen seines Vaters schnellten jetzt zu Adam, der nach unten schaute und durchbohrten ihn mit seinem scharfen Blick. Genugtuung machte sich in ihm breit. Endlich würde auch er bestraft werden. Endlich würde Adam verstehen wie er sich immer fühlte. Sonst bekam immer nur er die Schuld. Adam hatte seinen Blick inzwischen gehoben.

„Ich war es nicht."

Adam war schon immer schwach gewesen. Ein Schwächling. Vor Verachtung schnaubte er auf, was zur Folge hatte das Vaters Blick wieder zu ihm schnellte.

„Schluss mit den Spielchen", donnerte seine Stimme durch den Raum. „Ihr wisst was ich davon halte, wenn ihr nicht die Wahrheit sagt. Ich frage euch jetzt ein letztes Mal. Wer von euch beiden war es?"

Schweigen. Seinem Vater lief der Kopf rot an. Er schlug mit aller Kraft mit seiner Faust auf den Tisch. Beide Brüder fuhren vor Schreck zusammen. Adam schaute zu Boden, aber Aaron stellte sich seinem Vater, schaute ihn direkt an. Er würde nicht kleinbeigeben. Nicht heute. Er hielt dem Augenkontakt stand. Vaters Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

„Du warst es, oder?"

„Nein, ich war es nicht. Adam war es", beharrte er davon überzeugt sein Vater würde ihm glauben.

„Du warst es." Jetzt klang Vaters Stimme nicht mehr fragend, sondern anklagend.

Er schüttelte dem Kopf, wieso glaubte Vater ihm nicht?

„Adam würde niemals lügen. Er kommt ganz nach mir. Du solltest dir ein Beispiel an ihm nehmen."

Die Verachtung in der Stimme seines Vaters verletzte ihn, machte ihn so unfassbar wütend.

„Es ist doch egal, dass ich es war, der die Kekse gegessen hat. Adam soll einfach nur bestraft werden, so wie ich!", schrie er und bemerkte gar nicht, dass er gerade ein Geständnis abgelegt hatte.

Sein Vater war inzwischen rot angelaufen. „Lügen und falsche Beschuldigungen. Habe ich dir eigentlich irgendwas beigebracht? Aus dir wird nie etwas Anständiges werden." Er schüttelte den Kopf. „Adam geh auf dein Zimmer."

Er klang liebevoll. Das war alles was Aaron sich von ihm wünschte. Liebe. Das was sein Vater ihm nicht gab, das was er nie von ihm erhalten würde. Das musste er schon ziemlich früh lernen. Sein Bruder schaute ihn ängstlich und zugleich mitleidig an. Er wollte dieses Mitleid aber nicht. Sein Bruder verdiente die Liebe seines Vaters nicht, aber er besaß sie und das verstand er einfach nicht. Sein Bruder war doch schwach. Er schaute ihn nicht an. Konnte seinen Anblick nicht ertragen. Schließlich blickte er seinem Vater erneut in die Augen. Er würde seine Strafe mit Würde entgegennehmen.

Der WahrheitsfinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt