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Leere. Sie empfand nichts außer dieser quälenden endlos langen Leere. Jegliches Zeitgefühl war verloren gegangen, seit sie sich auf den Weg gemacht hatte, um das Ende der unendlich tiefen Schlucht zu finden. Mila hatte bisher nichts entdeckt. Gar nichts. Nicht einmal schmaler war der Abgrund geworden. Sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen, doch es kam ihr so vor, als würde er jedes Mal ein Stückchen breiter werden. Jeder Schritt verstärkte die Leere in ihrem Körper. Die Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt. Mila fühlte sich im Kopf nur noch wie benebelt. Fühlte nichts mehr. Nur diese verfluchte, furchtbare Leere, die sie ausfüllte. Dennoch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie war noch nicht bereit aufzugeben. Ihre Tochter brauchte sie doch. Niemals würde sie Chloe im Stich lassen. Dafür liebte sie sie viel zu sehr. Deshalb biss sie jetzt tapfer die Zähne zusammen und stiefelte weiter am Rande der Schlucht entlang. Auf einmal sah sie Chloe. Sie erschien einfach wieder auf der anderen Seite und starrte sie an. Mila wollte ihren Namen schreien, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen musste sie sich damit begnügen, dass sie ihre Hand in Chloes Richtung ausstreckte. Sie wollte sie berühren, in ihre Arme nehmen, doch sie kam nicht an sie heran. Die Leere war immer noch da, aber sie wurde durch ein anderes Gefühl erweitert. Sie spürte auch Wärme, die unter anderen Umständen überwiegt hätte. An diesem Ort jedoch, waren negative Emotionen stärker. Dann hörte sie ein Geräusch. Mila wusste nicht, woher es kam, doch dann schaute sie Chloe an und sie sah, dass ihr Mund zu einem spitzen Schrei geformt war. Sie wollte zu ihr hinüber, um sie zu trösten, doch Steine rollten in den Abgrund, als sie einen Fuß näher an die Klippe setzte. Geröll löste sich und sie machte wieder einen Schritt zurück. Der Schrei verstummte. Mila sah wie eine Hand ohne Besitzer ein Tuch auf Chloes Mund drückte. Es ertönte wieder ein Schrei. Nach einer Weile bemerkte Mila, dass er diesmal aus ihrem Mund stammte. Ihre Tochter konnte ihre Augen kaum noch offenhalten, bis sie ihr schließlich ganz zufielen. Aus einer Hand wurden zwei und diese fingen an Chloe von ihr wegzutragen.

„Nein!" Mila musste mit ansehen wie sie sich immer weiter von ihr entfernte.

Wieder ging sie einen Schritt vorwärts. Wieder fielen einige lose Steine hinunter, während Mila in den tiefen, schwarzen Abgrund blickte. Entschlossen machte sie einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang. Alles geschah wie in Zeitlupe. Sie schien ewig in der Luft zu schweben. Dann fiel sie. Fiel und fiel. Immer tiefer. In das dunkle Nichts hinein.

Mila schlug schwer atmend die Augen auf. Das erste was sie empfand war Sorge. Ging es Chloe gut? Reflexartig griff sie sich an ihren Kopf. Er war mit einem Verband umwickelt und erst jetzt bemerkte sie die starken Kopfschmerzen und die Schmerzen im Bereich des Brustkorbes.

„Das ist aber schön. Sie sind aufgewacht." Mila blickte sich um und entdeckte eine Ärztin, ungefähr in ihrem Alter in der Tür stehen mit einem Klemmbrett in der Hand.

„Ich muss zu meiner Tochter. Ihr ist was passiert. Ich spüre das." Sie wollte aufstehen, doch die Ärztin drückte sie sanft wieder zurück auf ihr Bett.

„Das geht leider nicht. Wir müssen noch einige Tests durchführen, ob das Schädel-Hirn-Trauma Spuren bei Ihnen hinterlassen hat beziehungsweise noch wird. Sie müssen definitiv noch einige Tage unter Beobachtung hierbleiben." Die Ärztin blickte sie über den Rand ihrer Brille tadelnd an.

„Das geht aber nicht. Meine Tochter..." Mila wollte aufstehen, sank aber gleich darauf wieder zurück. Sie war einfach noch zu schwach.

„Ihre Tochter war gestern hier. Es geht ihr gut. Sie können auch jemanden anrufen, der nach ihr sieht." Die Ärztin deutete auf ihr Handy auf dem Nachttisch.

Zitternd ergriff sie es und wählte eine Nummer. „Agent Roberts hier?"

„Ich bin es Mila. Du musst nachsehen ob bei Chloe alles in Ordnung ist. Ich glaube ihr ist etwas passiert. Sie lassen mich hier nicht gehen." Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

„Klar ich schaue mal bei ihr vorbei. Sie sollte noch in der Schule sein. Ich melde mich, sobald ich Neuigkeiten für dich habe. Schön, dass es dir wieder gut geht." Er legte auf.

Dankbar sank sie in ihre Kissen zurück. Er hatte keine Fragen gestellt. Sie hätte auch nicht gewusst, was sie ihm sagen sollte. Es blieb alles einfach nur ein Gefühl.

Nach einer guten Stunde rief Agent Roberts zurück. „Die Direktorin war verwirrt, als ich nach Chloe fragte. Sie hat mir erzählt das Krankenhaus hat angerufen. Dein Zustand soll sich verschlechtert haben. Der Biologielehrer Michael Reynolds soll sie hingefahren haben.

Mila hielt die Luft an. Das durfte nicht wahr sein. Michael. Aarons bester Freund war sein Komplize.

„Wir können natürlich nicht mit Gewissheit sagen, ob der Lehrer etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat, aber Fakt ist, dass sie nie in dem Krankenhaus angekommen ist." Sie hörte gar nicht mehr richtig zu.

Die Erkenntnis traf sie und sie gab sich in Gedanken selbst eine Ohrfeige. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht. Aaron war der Wahrheitsfinder und Michael sein Komplize und auch gleichzeitig bester Freund. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Wegen ihr war Chloe in Gefahr.

„Scheiße." Sie schlug die Bettdecke zur Seite und stand mit zitternden Beinen auf.

„Was denken sie was sie da tun?" Mila verlor vor Schreck beinahe das Gleichgewicht, fing sich aber in letzter Sekunde in dem sie sich am Bett abstützte.

„Ich muss los. Es ist ein Notfall." Jetzt biss sie die Zähne zusammen und drückte den Rücken gerade.

„Kommt gar nicht in Frage. Ihr Gesundheitszustand ist mehr als instabil. Ich kann sie nicht gehen lassen. Das kann ich als ihre Ärztin nicht verantworten." Sie lief zu Mila und drückte sie an ihrer Schulter ins Bett zurück.

„Aber..." Ihr Protest viel nur noch halbherzig aus, denn sobald sich ihr die Gelegenheit bot, würde sie abhauen. 

Der WahrheitsfinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt