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Chloe schreckte aus dem Schlaf. Sie brauchte einige Minuten, um sich zu orientieren. Ein schwacher Lichtstrahl schien durch ihre Vorhänge und erhellte das Zimmer gerade so weit, dass man die Umrisse der Möbel erkennen konnte. Es klingelte erneut und erinnerte sie daran wieso sie überhaupt aufgewacht war. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es noch viel zu früh war, um aufzustehen. Wer stand den so früh am Morgen schon an ihrer Haustür? Warum hörte sie ihre Mutter nicht hinuntergehen und aufmachen? Seufzend schwang sie ihre Beine über die Bettkante und stand auf. Sie schnappte sich ihren Bademantel und zog ihn über ihre Schlafsachen. Dann tapste sie barfuß nach unten und öffnete die Tür.

„Agent Roberts?" Chloe schaute direkt in das Gesicht des Agenten.

„Es tut mir sehr leid. Es geht um deine Mutter. Sie wurde heute Nacht angefahren, als sie von einem Einsatz zurückgekehrt ist." Er strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Auge.

Chloe zuckte zusammen. „W-w-wie geht es ihr?" Sie versuchte einen Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.

„Sie wurde erst vor kurzem ins Krankenhaus geliefert. Ich weiß noch nicht, wie es ihr geht. Zieh dir schnell was an und ich bringe dich hin."

Alle Müdigkeit war auf einmal von ihr gewichen. Sie stürmte in einem Affentempo die Treppen hinauf und suchte mit zittrigen Händen in ihrem Kleiderschrank nach etwas zum Anziehen. Sie entschied sich für eine blaue Jeans und ein schlichtes T-Shirt. Dann stürmte sie wieder hinunter. Das konnte nicht wahr sein. Ihre Mutter konnte nicht verletzt worden sein. Das war alles nur ein Alptraum. Allerdings ein Traum der sich ziemlich real anfühlte. Die Ungewissheit, ob es ihrer Mutter gut ging, trieb sie in den Wahnsinn. Sie stieg in Agent Roberts Wagen und gemeinsam fuhren sie ins Casper- David- Friedrich- Krankenhaus. Chloe sprang aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Dann rannte sie los. Ihre Sportlehrerin wäre stolz auf sie gewesen, so schnell war sie noch nie gerannt.

„Wo ist meine Mom? Mila Carter." Außer Atem lehnte sie sich gegen die Empfangstheke.

„Lassen sie mich mal schauen." Nach einer Weile. „Ihre Mutter wird gerade operiert. Setzen sie sich doch ins Wartezimmer." Die Frau lächelte sie an und zeigte ihre makellos weißen Zähne.

„Was fehlt ihr denn?" Chloe hatte angefangen zu zittern.

„Das kann ich ihnen nicht sagen, da müssen sie schon einen Arzt fragen." Ihr Lächeln verschwand und sie schaute Chloe mit zuckenden Schultern an.

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie blickte auf. Es war Agent Roberts, der inzwischen auch zur Tür hereingekommen war. Er führte sie ins Wartezimmer und sie setzten sich auf die blauen Ledersessel. Wenn Chloe nicht so in Sorge wäre hätte sie vielleicht bemerkt, wie bequem sie eigentlich waren. Jetzt hieß es warten. Ständig muss man warten. An Bushaltestellen, an Supermarktkassen und auf Antworten auf Nachrichten. Wie sehr sie Warten hasste. Schwebte ihre Mom in Lebensgefahr? Eine Erinnerung stahl sich in ihr Bewusstsein. Sie war mit Mila auf einem Mittelalterfest gewesen, am Tage ihres fünften Geburtstags. Beide hatten sich verkleidet. Chloe war ein Burgfräulein und ihre Mutter war der Ritter, der sie vor dem bösen Drachen retten sollte. Sie erinnerte sich an Seifenblasen, denen sie ausgelassen hinterherrannten. Chloe war mit ihrer Mutter fröhlich umhergesprungen und sie hatten zu der unterschiedlichsten Musik getanzt. Sie konnte sie jetzt nicht alleine lassen. Ihre Mutter hatte sie belogen, aber das kam ihr auf einmal gar nicht mehr so schlimm vor. Hauptsache sie blieb am Leben.

Eine Ärztin betrat den Raum. „Bist du die Tochter von Mila Carter?"

Chloe nickte nur. Sie befürchtete, dass ihr die Worte im Hals stecken bleiben würden.

„Komm mit mir, Kindchen. Du darfst jetzt zu ihr. Deine Mutter hat ein Schädel-Hirn-Trauma und einige gebrochene Rippen abbekommen. Wir haben sie natürlich gleich operiert. Allerdings liegt sie seitdem im Koma. Wir wissen nicht ob sie aufwachen wird, aber die Chancen stehen gut." Die Ärztin klärte sie beim Gehen über den Zustand ihrer Mutter auf.

Koma? Das konnte nicht sein. Als sie das Zimmer betraten erwartete sie, dass Mila sie anschaute und sie mit ihrem warmen Lächeln ansah. Doch das tat sie nicht. Sie saß nicht. Sie lag und war an seltsamen Geräten angeschlossen. Die Geräte piepten und der Ton hallte noch lange in Chloes Ohren nach, als sie das Zimmer schon längst wieder verlassen hatte.

„Ich lasse euch beide mal allein. Drücken sie den Knopf neben dem Bett, falls was sein sollte." Mit diesen Worten verließ die Ärztin das Zimmer.

Chloe blieb mit Mila allein. „Mom? Kannst du mich hören?"

Sie schaute ihre Mutter an. In der Hoffnung sie würde endlich die Augen aufschlagen und sie in den Arm nehmen, doch sie blieben geschlossen, verbargen die himmelblaue Farbe, die sonst nur so vor Leben sprühte.

„Mom? Ich bin es Chloe. Wach auf Bitte." Sie merkte gar nicht wie sie anfing zu schluchzen. Tränen fingen an sich ihren Weg über ihr Gesicht zu suchen. Eine verirrte sich in ihren Mund und hinterließ einen salzigen Geschmack auf ihrer Zunge.

„Bitte, Mom. Wach auf." Sie rüttelte leicht an der Schulter von Mila. „Wach auf. Lass mich nicht zurück. Bitte." Nichts passierte.

Die Monitore fingen an zu piepen. Vor Schreck zuckte Chloe zurück. Dann fing sie an, wie wild auf den Notfallknopf zu drücken.

Ärzte kamen angerannt. „Sie hat einen Herzstillstand. Schnell bereitet den Defibrillator vor." Eine Krankenschwester reichte der Ärztin das Gerät und ließ einen Stromschlag durch Milas Körper leiten, der dadurch ruckartig zusammenzuckte.

„Bringt die Tochter hier raus." Eine Krankenschwester nahm Chloe an der Hand und führte sie wie ein kleines Kind hinaus in den Flur.

Sie nahm alles nur noch verschwommen war. Herzstillstand. Das hatten die Ärzte gesagt. Ihr Herz konnte nicht aufgehört haben zu schlagen. Sie müssen sie zurückholen. Ihre Mutter muss doch bei ihrem Schulabschluss dabei sein, bei ihrer Hochzeit und irgendwann ihre Enkelkinder in den Armen halten. Sie konnte jetzt nicht gehen. Chloe bemerkte gar nicht, wie die Krankenschwester sie behutsam auf einen Stuhl drückte und beruhigend auf sie einredete. Das Atmen fiel ihr auf einmal schwer. Sie stieß viel zu schnell Luft aus.

Die Ärztin trat in den Flur. „Deiner Mutter geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen."

Keine Sorgen machen? Ihre Mutter hatte gerade einen Herzstillstand. Wer sagte, dass das nicht noch einmal passieren konnte? Diesmal für immer? Der Gedanke ließ sie frösteln. So etwas durfte sie nicht denken. Sie musste stark sein, für ihre Mutter. 

Der WahrheitsfinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt