1983

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Der Wind wehte ihm durch die Haare und die Sonne schien ihm gleichzeitig warm ins Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen und versuchte die Stimmen der Schüler um ihn herum auszublenden. Es gelang ihm nicht. Alle hier waren so schrecklich unreif. Sie nervten ihn, vor allem sein Bruder Adam ging ihm auf die Nerven. Er hatte noch nie eine besonders gute Beziehung zu ihm gehabt. Das lag größtenteils an ihm. Das wusste er. Aaron hatte nie versucht sich seinem Bruder anzunähern. Adam hatte als sie noch kleiner waren, immer zu seinem größeren Bruder aufgesehen. Er hatte es genossen, bis sein Vater anfing seinen Bruder zu bevorzugen. Adam wurde sein Schützling. Sein Vater brachte ihm alles bei, was er ihm hätte beibringen sollen. Die Eifersucht gegenüber seinem Bruder brannte Löcher in sein Herz. Zerfetzte es. Was hatte sein Bruder an sich, dass er nicht hatte? Er war stärker, mutiger und schlauer, als er. Er öffnete die Augen und sah in einiger Entfernung Adam mit seinen Freunden auf dem Schulhof stehen. Komischerweise ließen sie seinen Bruder in Ruhe. Niemand stempelte ihn als verrückt ein. Ganz im Gegenteil, er war sogar ziemlich beliebt. Das verstand er nicht. Er sollte an seiner Stelle stehen, von Freunden umringt. Sie sollten an seinen Lippen hängen und über seine Witze lachen. Stadtessen lachten sie über Adams Witze. Aaron war jemand über den gelacht wurde. Er war allein und hatte keine Freunde. Als er Adam ein weiteres Mal ansah, umringt von seinen Freunden, brannte bei ihm eine Sicherung durch. Langsam schlenderte er auf seinen Bruder zu.

„Kann ich dich mal kurz sprechen?" Adams Freunde fingen an zu tuscheln.

Es heizte ihn nur noch mehr an. Adams Augen fingen an zu leuchten. Sein älterer Bruder redete sonst nie mit ihm.

„Klar." Sie gingen hinter die Schule.

An eine abgelegene Stelle, wo die Schüler manchmal heimlich rauchten. Heute war keiner hier, weil alle noch in ihren Klassen saßen. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er schlug zu. Mit der Faust geradewegs in das verblüffte Gesicht seines nervigen, kleinen Bruders. Er hatte keine Zeit sich zu wehren. Schon landete der nächste Schlag in seinem Gesicht. Immer und immer wieder. Der ganze Hass steckte in seinen Schlägen. Für einen zehnjährigen hatte er schon beachtlich viel Kraft. Aaron konnte nicht mehr aufhören. Adam blutete bereits an der Lippe. Blut lief ihm aus der Nase und immer noch wehrte er sich nicht. Dann schlug er ihm ein letztes Mal ins Gesicht. Hart. Sein Bruder verlor das Bewusstsein und stürzte auf den Boden, aber er hatte immer noch nicht genug. Er fing an seinen Bruder zu treten. Es knackte. Er hatte ihm eine Rippe gebrochen. Aaron war wie im Rausch, fühlte sich großartig, frei. Das erste Mal seit langem. Plötzlich spürte er mit starke Händen nach ihm greifen. Sie zehrten ihn von der bewusstlosen Gestalt seines Bruders fort. Er wollte weitermachen und wehrte sich nach Kräften, trat mit seinen Beinen um sich.

„Sag mal Junge. Bist du bekloppt?" Er wendete sich an eine andere Lehrerin. „Frau Schwarz? Würden sie sich bitte um den anderen Jungen kümmern und den Krankenwagen rufen." An der Stimme erkannte er seinen Sportlehrer Herr Müller.

Aaron antwortete nicht und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. Er würde ihn sowieso nicht verstehen. Niemand hatte das je getan.

„Junge? Sag mal bist du taub? Ich rede mit dir." Sein Sportlehrer klang sauer. „Du kommst jetzt erst mal mit zum Direktor. Ich rufe gleich deine Eltern an."

Beim Wort Eltern zuckte er zusammen.

„Nein. Bitte nicht meine Eltern", bettelte und flehte er seinen Lehrer an.

„Junge, Junge. Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Bevor du den armen Jungen verprügelt hast."

Er fing an zu zittern. Wie würde sein Vater reagieren? Er hatte seinen Lieblingssohn verprügelt. Diesmal würde er nicht nur drei Tage ohne Essen und Trinken in seinem Zimmer verbringen müssen. Schon damals, als er die Sache mit den Keksen seinem Bruder in die Schuhe schieben wollte, wurde er von seinem Vater windelweich geschlagen. Er hatte eine Woche lang nicht sitzen können, geschweige denn Laufen.

„Herr Ahlers, was haben sie sich nur dabei gedacht? Dieses Verhalten dulden wir hier nicht an dieser Schule."

Er schreckte auf, denn sie waren beim Direktor angekommen.

„Was machen wir nur mit ihnen? Ein Verweis wäre wohl das Beste.", nachdenklich zog der alte Direktor seine Stirn kraus. „Ja, das wäre wohl das Beste. Wie stünde die Schule denn dar, wenn wir einen Raufbold hierbehalten würden. Jaja." Der Direktor sprach mehr zu sich selbst als zu dem Schüler, der vor ihm saß.

Dieser machte sich mehr Sorgen über die Reaktion seines Vaters. Die Tür wurde aufgerissen und Aaron kroch in Gedanken unter den Tisch. Er traute sich nicht, sich umzudrehen.

„Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte. Was ist denn passiert? Meine Frau ist auf dem Weg zu unserem Sohn Adam ins Krankenhaus..." Sein Vater verstummte, als er Aaron sah.

„Wieso bist du hier, Sohn?"

Er antwortete nicht. Blieb lieber still und hüllte sich in die schützende Dunkelheit der Wortlosigkeit.

„Ich fürchte ihr Sohn ist schuld an dem, nun ja, Zustand ihres anderen Sohnes.", sagte der Direktor, als Aaron nicht antwortete.

Er durchbrach den einzigen Schutz, in den er sich hüllen konnte – die Stille. Jetzt war er schutzlos. Es war heraus und sein Vater wusste Bescheid. Vor dem Direktor würde der Vater ruhig bleiben, das wusste er, doch sobald sie hier heraus waren, würde das Geschimpfe losgehen. Der Direktor erklärte seinem Vater, wie es nun weitergehen würde und dass ein Schulverweis wohl die beste Lösung wäre. Sein Vater zeigte sich verständnisvoll und nickte höflich, wenn der Direktor etwas sagte. Doch die Fassade täuschte, Aaron sah, wie sein Vater vor Wut überkochte. Seine Lippe zitterte leicht, so wie sie es immer tat, wenn er kurz vor dem explodieren stand. Aaron hatte es schon oft genug miterlebt, um das zu wissen.

„Wir gehen." Barsch wandte sein Vater sich Aaron zu und packte ihn grob am Handgelenk „Sohn, ich möchte es von dir hören. Du weißt, dass mir die Wahrheit wichtig ist. Hast du deinen Bruder verprügelt?" Sein Vater stellte ihm diese Frage jedes Mal, wenn er etwas ausgefressen hatte und seine Antwort war wie jedes Mal Schweigen.

Dann wurde er dafür bestraft und sagte schließlich doch die Wahrheit, wenn er es nicht mehr aushielt. Aaron schwieg, auch wenn er wusste, dass er dadurch seine Bestrafung verschlimmerte. Die Genugtuung wollte er seinem Vater nicht geben.

Der WahrheitsfinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt